Miteinander reden - Miteinander lernen

Evangelischer Bildungsimpuls 5

Jesus von Nazareth I:

ein Mensch seiner Zeit – Anstoß für unsere Zeit

von Dorothea und Werner Zager


Jesus von Nazareth – ein Mensch seiner Zeit

Wir sind es zu Recht gewohnt, jede historische Persönlichkeit in ihre Zeit hin­eingestellt und als von ihrem eigenen Weltbild geprägt anzusehen und von daher auch zu beurteilen. Dies ist nicht nur legitim, sondern zum Erfassen der jeweiligen geschichtlichen Zusammenhänge auch unerlässlich. Von daher kann es nicht untersagt sein, vielmehr ist es geradezu dringend erforderlich, Jesus von Nazareth ebenfalls als Mensch seiner Zeit wahrzunehmen. Entdecken wir dabei Züge, die sich durch den Lauf der Zeit und den Wandel der Erkenntnisse verändert haben und die heute überholt sind, braucht uns das nicht zu schrecken; es hilft vielmehr zu einem richtigen Verstehen.

Jesus von Nazareth war von seiner Weltanschauung her dem antiken Weltbild verhaftet, das auch den Schilderungen der Weltschöpfung im Alten Testament zugrunde liegt. Er lebte in der Vorstellung von guten und bösen Geistern, von Engeln und Dämonen, von Satan, von der Hölle, die „unten“ dem Menschen mit ewiger Verdammnis droht, und vom Himmel, der „oben“ den Vatergott, seine Boten und schließlich die Seelen der Vollendeten beherbergt. Dieses Weltbild ist nicht mehr das unsere. Wir wissen wohl, dass es in unserem Leben und in unserer Welt sowohl gute, lebensfördernde Kräfte als auch böse und zerstörerische Mächte gibt. Wir wissen aber auch, dass sie mit solchen Vorstellungen wie „Hölle und Himmel“, „oben und unten“, „Teufel und Engel“ nicht mehr begriffen werden können. Ohne Furcht also dürfen wir solche Anschauungen, die mit dem Weltbild des Altertums angehören, als für uns heute nicht mehr bindend ansehen.

Jesus von Nazareth lebte wie viele Juden seiner Zeit in der glühenden Erwartung, Gottes Herrschaft würde noch zu Lebzeiten seiner eigenen Zeitgenossen sichtbar und endgültig in unserer Welt Gestalt annehmen. Diese Hoffnung erfüllte sich jedoch nicht. Das endgültige Sich-Durchsetzen des Reiches Gottes verzögerte sich und blieb letztlich ganz aus. Darum ist es nicht verfehlt, zu sagen: In diesem Punkt hat sich Jesus von Nazareth geirrt. Das Reich Gottes hat sich in unserer Welt noch nicht endgültig durchgesetzt, das Ringen um seine Verwirklichung, das Hoffen auf sein Kommen hielt an. Bis auf den heutigen Tag. So ist gerade die so starke endzeitliche Ausrichtung der Predigt Jesu das, was es uns so schwer macht, seine Botschaft als uns wirklich in unserer heutigen Lebenssituation betreffendes Wort zu verstehen.

Dieses Problem hatte bereits Johannes Weiß in seiner Schrift „Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes“ (1892; 2. Aufl. 1900) klar erkannt, und Albert Schweitzer hat es in seiner „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ (1906; 2. Aufl. 1913) sehr plastisch herausgestellt:

Es ist der Leben-Jesu-Forschung merkwürdig ergangen. Sie zog aus, um den historischen Jesus zu finden, und meinte, sie könnte ihn dann, wie er ist, als Lehrer und Heiland in unsere Zeit hineinstellen. Sie löste die Bande, mit denen er seit Jahrhunderten an den Felsen der Kirchenlehre gefesselt war, und freute sich, als wieder Leben und Bewegung in die Gestalt kam und sie den historischen Menschen Jesus auf sich zukommen sah. Aber er blieb nicht stehen, sondern ging an unserer Zeit vorüber und kehrte in die seinige zurück. Das eben befremdete und erschreckte die Theologie der letzten Jahrzehnte, dass sie ihn mit allem Deuteln und aller Gewalttat in unserer Zeit nicht festhalten konnte, sondern ihn ziehen lassen musste. Er kehrte in die seine zurück mit derselben Notwendigkeit, mit der das befreite Pendel sich in seine ursprüngliche Lage zurückbewegt.“

 

Jesus von Nazareth – Anstoß für unsere Zeit

Wenn es denn so ist, dass Jesus von Nazareth ein Mensch seiner Zeit war, dem Weltbild seiner Zeit verhaftet, vor Irrtümern nicht gefeit, mit Hoheitstiteln erst später belegt, wie kann uns dieser Jesus dann überhaupt noch etwas bedeuten? Wie kann er uns „Herr“ werden? Ist er dann nicht nur ein Vorbild wie so viele gute, vorbildliche Menschen vor und nach ihm?

Jesus kann uns dann zum Herrn unserer Gedanken werden, wenn wir uns an seinem Willen orientieren. Wenn wir danach fragen: Was wollte Jesus den Menschen sagen? Was wollte er mit seinen Worten, mit seinem Verhalten erreichen? Was wollte er verbessern? Was wollte er ändern? Wenn wir so fragen, wenn wir so seinen Willen erkennen und diesen Willen auch zu unserem eigenen Wollen machen, dann erreichen wir eine tiefe geistige und geistliche Gemeinschaft mit ihm. Über alle Jahrhunderte hinweg, durch alle antiken Vorstellungen hindurch, über alle Dogmen und Irrtümer hinaus, finden wir etwas, was uns zutiefst mit ihm verbindet: sein Lebensziel. Sein Ziel war es, den Menschen Gottes Gnade zu vergewissern, Gottes Barmherzigkeit zu predigen und sie für Gottes Liebe zu öffnen. Stellen wir uns mit ihm unter dieses sein großes Lebensziel und versuchen wir es zu unserem eigenen zu machen, dann haben wir innere Gemeinschaft mit ihm und können uns getrost und unbekümmert von Vorstellungen und Hoffnungen lösen, die einer vergangenen Zeit angehören und die daher nicht künstlich aufrechterhalten werden müssen.

In jeder Weltanschauung sind zeitlich Bedingtes und zeitlich Unbedingtes in- und nebeneinander, weil sie darin besteht, dass ein Wille das Vorstellungsmaterial durchdringt und gestaltet. Das letztere ist Wandlungen unterworfen. Darum gibt es keine Weltanschauung, so groß und tief sie sei, die nicht Vergängliches enthält. Aber der Wille selbst ist zeitlos. Er offenbart das unergründliche und primäre Wesen einer Persönlichkeit und bedingt auch die letzte und grundlegende Bestimmtheit ihrer Weltanschauung. Mag das Vorstellungsmaterial sich noch so sehr wandeln und eine dementsprechende weitgehende Verschiedenheit alter und neuer Weltanschauungen zur Folge haben, so liegen diese in Wirklichkeit doch nur so weit auseinander, als die sie konstituierenden Willensrichtungen auseinandergehen.

Was aber ist nun dieser Wille, dieses Ziel, das in Jesus lebte und in dem wir mit ihm gemeinsam leben können?

Jesus wollte dem einzelnen Menschen einen Weg zu Gott eröffnen. Darum sprach er zu den Menschen von Gottes Liebe, darum verwirklichte er selbst die Gottesliebe in seiner tätigen Zuwendung zu den Menschen, die Hilfe, Nähe oder Rat brauchten, darum ging er seinen Lebensweg als einen konsequenten Liebesweg bis zum bitteren Ende. Der einzelne Mensch soll vollendet werden, indem er sich von Gott geliebt und angenommen weiß. In diesem festen Wissen kann er so werden, wie Gott ihn sich wünscht: voller Vertrauen in ihn, mit offenem Herzen gegenüber dem Mitmenschen und der Mitkreatur, barmherzig und einfühlsam.

Jesus wollte der ganzen Menschheit und der Welt einen Weg zu Gott eröffnen. Denn wenn der einzelne Mensch sich in der Gottesliebe geborgen fühlt und von daher innerlich gewandelt in dieser Welt lebt und handelt, ändert sich auch das Gesicht dieser Erde: Es wächst eine Welt, in der Gerechtigkeit wohnt, in der die sozialen und politischen Spannungen und Gegensätze aufgehoben sind, in der Friede im umfassenden Sinne herrscht zwischen den Menschen und Gott, zwischen den Menschen untereinander und zwischen den Menschen und der übrigen Schöpfung. Es wächst das Reich Gottes.

So ist Jesus uns viel mehr als nur ein Vorbild. Er ist es, der uns durchdringt mit Gottesliebe und mit seinem Willen für eine neue, gute Welt. Anders aber als er, der das Reich Gottes noch von einem endgültigen Eingreifen Gottes in die Geschichte her erwartete, wissen wir heute: Es ist einem jeden Menschen unter uns selbst in die Hände gelegt, jeder und jedem an seinem und ihrem Ort und mit den jeweiligen eigenen Möglichkeiten, etwas davon zu verwirklichen, was Jesus mit „Reich Gottes“ meinte.

Dass Jesus eine übernatürlich sich realisierende Endvollendung erwartet, während wir sie nur als Resultat der sittlichen Arbeit begreifen können, ist mit dem Wandel in dem Vorstellungsmaterial gegeben. [...] Nur darauf kommt es an, dass wir den Gedanken des durch sittliche Arbeit zu schaffenden Reiches mit derselben Vehemenz denken, mit der er den von göttlicher Intervention zu erwartenden in sich bewegte, und miteinander wissen, dass wir imstande sein müssen, alles dafür dahinzugeben.“

Wenn wir uns in dieser Weise Jesus nähern, über alles Trennende hinweg die Willensgemeinschaft mit ihm suchen, wird jene „gewaltige geistige Strömung“ auch uns erfassen, die von Jesus „ausgegangen ist und auch unsere Zeit durchflutet“.

Als ein Unbekannter und Namenloser kommt er zu uns, wie er am Gestade des Sees an jene Männer, die nicht wussten, wer er war, herantrat. Er sagt dasselbe Wort: Du aber folge mir nach! und stellt uns vor die Aufgaben, die er in unserer Zeit lösen muss. Er gebietet. Und denjenigen, welche ihm gehorchen, Weisen und Unweisen, wird er sich offenbaren in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an Frieden, Wirken, Kämpfen und Leiden erleben dürfen, und als ein unaussprechliches Geheimnis werden sie erfahren, wer er ist. ...“


© Prof. Dr. Werner und Dorothea Zager
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