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Evangelischer Bildungsimpuls 7

Jesus von Nazareth III:

seine Wunder

von Werner Zager

Dass wir als evangelische Christen, die den Mut haben, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, Probleme mit den von Jesus in den Evangelien berichteten Wundern haben, liegt auf der Hand. Setzen diese doch das Weltbild der Antike voraus, das nicht mehr das unsere ist.

Im antiken Weltbild gelten Gott sowie gute und böse Geister als Mächte, die ständig und unmittelbar in das Weltgeschehen eingreifen – mindestens eingreifen können. Von ihrer Einwirkung – und nicht von berechenbaren Naturgesetzen – sind die in der Natur zu beobachtenden Ereignisfolgen abhängig.

Diese Betrachtungsweise wurde zu Beginn der Neuzeit durch ein grundlegend anderes Weltbild abgelöst. Es begann mit den Erkenntnissen derjenigen Forscher, welche die moderne Physik und damit die neuzeitliche Naturwissenschaft begründeten: Kopernikus, Kepler, Galileo und Newton. Sie wiesen nach, dass die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt, sondern selbst nur ein Teil des Sonnensystems ist, und sie erbrachten für viele Bereiche der Natur den Nachweis für die Gültigkeit des Kausalitätsprinzips. Das heißt: Nichts, was geschieht, geschieht ohne einen zureichenden Grund dafür, dass es gerade so und nicht anders geschehen ist.

Oder um mit Albert Schweitzer zu sprechen: „Während unsere, durch die Wissenschaft gebotene Überzeugung dahingeht, dass in der Natur alles sich nach ewig geregelten Gesetzen vollzieht, erschien den Menschen von damals die Natur unter dem Zustand der Gesetzlosigkeit, als machten die Dämonen dem lieben Gott die Weltherrschaft streitig. Ein Wunder bestand für die damalige Vorstellung darin, dass ein Mensch durch die Kraft Gottes die Dämonen, denen man die menschlichen Leiden und Krankheiten zuschrieb, überwand.“

Jesus von Nazareth teilte offenbar die Dämonenvorstellungen seiner Zeit. Danach sind Krankheit, Schmerz und Tod, als Folge des Sündenfalls in die Welt gekommen, auf das schädigende Wirken eines Dämonenheeres zurückzuführen, an dessen Spitze der Satan (Teufel) steht. Von seinen Zeitgenossen unterschied sich Jesus durch die Überzeugung, dass Gott die Macht des Satans bereits gebrochen hat und die für die Zukunft erwartete Wiederaufrichtung der unumschränkten Herrschaft Gottes über seine Schöpfung bereits im Gange ist.

Weil Satan bereits entmachtet ist – in einer Vision schaute Jesus laut Lukas 10,18 dessen Sturz aus dem Himmel –, sah sich Jesus in der Lage, durch Exorzismen die herrenlos gewordenen Geister unter Kontrolle zu bringen. Indem Jesus mit dem „Finger Gottes“ die Dämonen austrieb, begann sich Gottes Reich auf Erden zu verwirklichen. Darum lässt sich Jesu Botschaft zusammenfassen mit den Worten: „Kehrt um, denn das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen!“

Die Frage, welche Wunder- und Heilpraktiken Jesus angewandt hat, lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten. Für die Dämonenaustreibungen ist in der ältesten Überlieferung von der Bedrohung des Krankheitsgeistes als maßgeblichem Machtmittel Jesu die Rede. Jedenfalls wandte Jesus bei seinen Exorzismen keine magischen Techniken an, wie dies etwa von dem jüdischen Geschichtsschreiber Flavius Josephus für den Wundertäter namens Eleazar berichtet wird. So soll Eleazar mit Hilfe einer Wurzel den Dämon aus der Nase des Kranken herausgezogen haben. Danach hinderte er den bösen Geist durch Beschwörungen am Zurückkehren und ließ ihn zur Demonstration seines Ausfahrens ein Wasserbecken umstoßen.

Ohne Zweifel hat Jesus Taten vollbracht, die seine Zeitgenossen als Wunder beurteilten, wie dies auch von anderen Wundertätern erzählt wird. Was die Historizität der Wunder Jesu betrifft, so unterscheidet Schweitzer zwischen Heilungswundern und Naturwundern (z.B. die Verwandlung von Wasser in Wein bei der Hochzeit zu Kana, die Brotvermehrung bei der Speisung der 5.000, die Sturmstillung und der Wandel auf dem See Genezareth).

Zwischen den Heilungswundern und den Naturwundern stehen die Auferweckungen von Toten: der Tochter des Jairus, des jungen Mannes zu Nain und des Lazarus.

Bei den Naturwundern und den Totenerweckungen handelt es sich um legendarische Glaubenszeugnisse der frühen Christen, die in erzählender Form das Bekenntnis zum gekreuzigten und auferstandenen Christus zum Ausdruck bringen sollen, wobei man auf alttestamentliche und hellenistische Wunderüberlieferungen zurückgriff. Diese Jesus zugeschriebenen Wunder wollen die göttliche Macht des zu Gott erhöhten Christus veranschaulichen, indem sie diese in das Bild des irdischen Jesus einzeichnen.

Während die von Jesus berichteten Naturwunder und Totenerweckungen also eher ungeschichtlich sind, lassen sich Jesu Heilungen vielfach psychologisch erklären.

In diesem Sinne äußerte sich auch der Straßburger Theologe und spätere Tropenarzt von Lambarene: „Jedenfalls ist es für den, der Jesu Leben genauer verfolgt, klar, dass seine Zeichen und Wunder in der Hauptsache, um nicht zu sagen ausschließlich, Heilungen waren. Es handelt sich dabei hauptsächlich um Heilungen an geistig Kranken, an Siechen, an Gelähmten und bestimmten Arten der Erblindung, das heißt um solche Krankheitsfälle, in denen die geistige Zerrüttung und die Erlahmung der Willenskraft eine große Rolle spielte. Jesus heilte die Menschen, indem er eine Kraft auf ihren Geist und auf ihr ganzes Wesen ausübte.“

Im Sinne Schweitzers geht es daher nicht an, von Christen zu fordern, „unterschiedslos alle von Jesus berichteten Wunder als Tatsachen anzuerkennen, und danach den Glauben zu bemessen“.

Jesu Heilungswunder bedeuten Schweitzer nicht etwas „als wunderbare Vorgänge, sondern als Taten des Mitleids und des Erbarmens unseres Heilandes“. Und so stellt der liberale Theologe die rhetorische Frage:

Besaß Jesus diese Heilkraft nicht darum, weil er so heilige Liebe, so reines Mitleid, so heißes Erbarmen hatte?“,

um gleich die ethische Konsequenz zu ziehen:

Und wenn wir solche Liebe, solches Mitleid und solches Erbarmen hätten – solche Kraft käme uns dann auch; denn es gibt immer so viel Wunder in der Welt, als heilige Liebe, reines Mitleid und heißes Erbarmen darin wirken.

Zwar weiß Albert Schweitzer um das in der Religion liegende Bedürfnis nach dem Wunderbaren, um das Bedürfnis nach etwas Außergewöhnlichem. Aber er ist zugleich der Auffassung, dass solche auf das Äußerliche und Sichtbare abzielende Wundersucht gar nicht existierte, wenn wir als Christen ein „geistiges Wunder“ geben könnten. Was ist damit gemeint?

Ein solches geistiges Wunder könnte darin bestehen, dass unsere Mitmenschen an uns erleben, dass wir durch den Glauben andere Menschen geworden sind. Dass von uns eine innerliche Kraft ausgeht, wir eine innere Ruhe ausstrahlen, Eitelkeit und Ehrgeiz hinter uns gelassen haben oder was sonst den Menschen klein macht. Das müsste sich an uns zeigen, „etwas von dem großen Wunder, das in dem Spruche des St. Paulus ‚Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur (2. Korinther 5,17) liegt“. Also nicht ist es wichtig, ob Jesus dieses oder jenes Wunder getan hat. Vielmehr „das ist die große Wunderfrage, die wahre Wunderfrage“, ob sich an uns ein geistiges Wunder vollzieht.

Dabei ist Albert Schweitzer sich durchaus unserer Unzulänglichkeiten bewusst. Jedoch sollen diese kein Grund sein, dass wir es gar nicht erst versuchen, uns zu ändern, unserem Leben eine neue Ausrichtung zu geben. Unser mangelndes Vermögen ist vielmehr Anlass, dass „wir demütig und bescheiden werden als die, welche wissen, dass sie nicht genug Salz der Erde und Licht der Welt sind (Matthäus 5,13-16), und zugleich gefasst und ernst als die, welche an sich arbeiten wollen, dass die Menschen mehr von dem einzigen, großen Wunder, der innerlichen Erneuerung durch den Geist Jesu, an ihnen erleben und zu Jesus geführt werden“.

Wo eine solche innerliche Erneuerung geschieht, will diese auch ausstrahlen und sich auswirken. Was dies im Einzelnen heißt, entscheidet sich an den Herausforderungen und Aufgaben, die sich uns jeweils stellen. Hier ist ein jeder, eine jede gefordert, von den eigenen Möglichkeiten und Begabungen Gebrauch zu machen. Entscheidend dabei ist, dass wir uns von dem Geist Jesu leiten lassen, dem Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.


© Prof. Dr. Werner Zager
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