Miteinander reden - Miteinander lernen

B wie Bildung

Von A bis Z. Wegweisende Texte 3


Liebe Leserin, lieber Leser,

nicht erst neuerdings, sondern schon seit geraumer Zeit besteht die Gefahr, Bildung auf Erziehung oder Lernen zu reduzieren. Darum ist es gut, sich an das Bildungsverständnis des großen Theologen und Philosophen Friedrich Schleiermacher zu erinnern, das in der christlichen Religion verwurzelt ist.

Für ein solches Bildungsverständnis, das sich nicht auf die Aneignung von Fakten und Informationen beschränkt (auch diese sind natürlich wichtig in Zeiten von Fake News und Verschwörungstheorien), kommt es entscheidend auf selbstständiges Denken, Urteilskraft und Liebe an – im Sinne einer zugewandten Offenheit für alles Lebendige, was uns begegnet. Bildung heißt immer auch: Ringen um die Wahrheit. Nicht nur die Liebe freut sich an der Wahrheit – wie es der Apostel Paulus sagt –, sondern auch die Bildung ist eine Liebhaberin der Wahrheit.

Die Evangelische Erwachsenenbildung sieht es als ihre ureigene Aufgabe an, Selbstbildung im Austausch mit anderen zu ermöglichen, zum Nachdenken und zur Besinnung darüber anzuregen, was unserem menschlichen Leben Halt, Orientierung und Sinn verleiht.

Es grüßt Sie freundlich
Ihr Werner Zager

 „Die Welt in sich aufnehmen und sich in der Welt darstellen“
Zur Aktualität der Bildungstheorie Friedrich Schleiermachers

Von Felix Grigat, M.A., verantwortlicher Redakteur von Forschung & Lehre

Es gehört zum vornehmen Ton, Fragen von Erziehung und Bildung ohne Beachtung der Tradition zu behandeln. Die „alteuropäischen“ Theorien stehen unter dem Verdacht der unklaren Begriffe, des Idealismus, der Ideologie, des bloßen Traditionalismus oder der Besitzstandswahrung. Dieser Verdacht ist, wie Schleiermachers Bildungstheorie zeigt, unbegründet.

Bildungssympathisanten haben es schwer. „Silbern glitzernd“ und „idealistisch“ sei ihr Bildungsbegriff, bestenfalls Ausdruck eines nostalgischen Weltbildverlangens. Kein einzelner könne die unüberschaubare Welt noch assimilieren, selbst wenn er unverdrossen tapfer einen vermeintlichen Kanon und gar noch mehr lese. „Das „Ganze“, das doch der Bildungsbegriff meint, ist nicht mehr lebbar, man wird unweigerlich in die Resignation getrieben“, wird nüchtern konstatiert. Professionelle „Menschenbeobachter“, auf dem Papier ganze Kerle, produzieren daraufhin, geradezu befreit und beflügelt, Arsenale von Argumenten und Tabellen für Vorträge und Kongresse aller Art. Sie garantieren, dass ihre Einsichten mit scharfem chirurgischem Besteck und kühlem, wertfreiem Blick ausschließlich „von außen“ gewonnen wurden. Evolutionsbiologisch akzeptiert und geschmeidig, wird Lernen zur Schlüsselkategorie für einen „neuen“ Bildungsbegriff, der Bildung ausschließlich als Lernprozess begreift – selbstverständlich mit der Komplexität suggerierenden Betonung auf dem „Lernen des Lernens“.

Hier wird allerdings die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Nicht einkalkuliert wird die Besinnung des Menschen auf sich selbst, die Perspektive der ersten Person. Man bemerkt nicht einmal, dass mit diesem chirurgischen Schnitt nichts Geringeres geschieht als die Halbierung der Welt und des Menschen. Die sich als „Realisten“ geben, sind also keine, ihre Wirklichkeit ist nur halb. Ein phänomengerechtes Reden über den Menschen und seine Bildung wird damit verspielt, systematischer Wirklichkeitsverlust ist die Folge. Ein gewisses Verständnis für diese fatale Reduktion vermag man aufzubringen, denn die Selbstbesinnung ist schwierig – aber notwendig.

Man muss es andersherum sehen: Gerade durch seine gewisse Sperrigkeit ist der antiquarisch erscheinende Bildungsbegriff geeignet, ein anthropologisches Phänomen anzuzeigen, das durch eine exklusive Außenperspektive auf den Menschen verfehlt wird. Der Bildungsbegriff fordert also geradezu eine fundamentaltheoretische Anstrengung heraus. Eine solche, bis heute nicht eingeholte Untersuchung vorgelegt zu haben, ist das Verdienst des Theologen, Philosophen, Platon-Übersetzers, Bildungspolitikers u.v.a.m. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834). Die Expedition zur Bildungstheorie Schleiermachers ist weder nostalgisch, noch bloß historisch, noch willkürlich. Seine Bedeutung als herausragendem Bildungstheoretiker in der europäischen Geistesgeschichte liegt darin, an der Epochenschwelle der Moderne die ganze Wirklichkeit des Bildungsprozesses, das Innen und Außen, das Fundamental-Anthropologische und das Empirische durchdacht und in einem offenen Denken zwischen weit ausgespannten Polen formuliert zu haben. Dabei hat für Schleiermacher alles Wissen nur vorläufige Gültigkeit, seine Theorie ist prinzipiell offen angelegt und darin modern.

Die „Wuth des Verstehens“

Der Kampf um die Bildung des Menschen ist nicht neu: Bereits im Jahr 1799 hat der junge Schleiermacher seinem Zorn über eine Halbierung des Menschen vehementen und durchaus auch heute aktuellen Ausdruck gegeben. Er kritisiert, dass die Befreiung der Vernunft, der „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, selbst wieder zur Herrschaft einer auf bloße Verständigkeit reduzierten Vernunft geführt habe. Er attackiert eine „Wuth des Verstehens“, die den Sinn, das nicht machtorientierte Denken und Sehen, nicht aufkommen lässt, und den Menschen, wie es für uns heute Durs Grünbein beschreibt, „faktensatt, von Informationen zerrissen“ durchs Leben wandern lässt. Warum, so fragt Schleiermacher seine Zeitgenossen, „vergißt über alles Wirken nach außen und aufs Universum hin Euere Praxis am Ende eigentlich immer den Menschen selbst zu bilden?“

Schleiermachers Denken über die Bildung des Menschen ist eingebettet in seine Sicht des gesamten Lebens. Wie alles Leben ist das menschliche Leben für ihn durch die Spannung polarer Gegensätze bestimmt. Auch der Bildungsprozess wird als Wechselwirkung (Oszillation) in solchen Gegensätzen verstanden. Der Mensch bildet sich und wird gebildet in der Spannung von Rezeptivität und Spontaneität, von Abhängigkeit und Freiheit, von Insichbleiben und Aussichheraustreten, von Ich und Du. Inmitten dieser polaren Spannungen entdeckt Schleiermacher das Zentrum der Bildung des Menschen in der „Selbstbildung“ oder „inneren Bildung“. Die Besinnung des Menschen auf sich selbst ist deshalb für sein Menschsein und seine Bildung entscheidend. In dieser Selbstbesinnung erkennt er sich als individuelles, freies und beziehungsreiches Wesen. Schleiermacher beginnt also phänomenologisch mit Bedacht und vollkommen richtig beim Individuum in seiner Wechselwirkung mit der Welt; die Bildung des Menschen kann nur als Bildung des Individuums verstanden werden. Das Individuum in Theorien zu Bildung und Erziehung auszuschließen, ist nach Schleiermachers Einsicht ein Widerspruch in sich selbst. Warum, so mag angemerkt werden, sind denn viele heutige Entwürfe z.B. zur Theorie der Universität und der Erziehung so seltsam formal? Weil sie von der Struktur und nicht vom Individuum ausgehen. Individualität ist aber der „direkte Widersacher des Gedankens der Einheit und Abgeschlossenheit der Struktur“ (M. Frank). Sie lässt sich aus den Strukturkonzepten nicht deduzieren, sondern muss vorausgesetzt werden.

Da Schleiermacher dicht bei dem anthropologischen Phänomen bleibt, nimmt er neben Selbst- und Weltbezug auch die religiöse, metaphysische Dimension des Menschen in den Blick. Damit steht er explizit in der ursprünglich theologischen Tradition des Bildungsbegriffs, mutet unserer mit antireligiösen Reflexen durchsetzten Zeit allerdings auch etwas zu: Das ‚unmittelbare Existentialverhältnis‘, das Gottesverhältnis, bestimmt, so ist Schleiermacher überzeugt, den Menschen grundlegend und bleibt auch für den Bildungsprozess konstitutiv. Der Mensch ist nicht in sich selbst, sondern in einem anderen gegründet. Er geht nicht auf im Alltagsgeschehen, sondern ist um seiner selbst willen da. Darin liegt seine Würde. Schleiermacher versteht Bildung als Prozess, der nicht zu dem Menschen neben anderen Vollzügen hinzukommt, sondern als den „Prozess des eigentlichen Menschwerdens“. Der Mensch hat sich nicht selbst gemacht, kann und soll sich aber im Bildungsprozess optimieren. Konsequent ist für Schleiermacher der Bildungsprozess als der Prozess des eigentlichen Menschwerdens um seiner selbst willen bedeutungsvoll.

Mensch und Welt zugewandt

Diese transzendent fundierte Selbstbildung ist für Schleiermacher Bedingung einer Zuwendung zu anderen Menschen und zur Welt, die gestaltet werden muss. Sich bilden bedeutet, sich im Zusammenhang der Welt in seiner unverwechselbaren Individualität eigentümlich darstellen, „selbst werdend Welt zugleich zu bilden“. Wunderbar die klare Formulierung: „Die Bestimmung des Menschen ist, die Welt in sich aufzunehmen und sich in der Welt darzustellen.“ Der einzelne verschließt seine Eigentümlichkeit nicht in sich, sondern in der Liebe hält er sich offen für Fremdes, teilt er sich mit, kommuniziert und handelt er: „Keine Bildung ohne Liebe, und ohne eigne Bildung keine Vollendung in der Liebe; Eins das Andere ergänzend wächst beides unzertrennlich fort.“ Die Liebe ist somit die zentrale Kategorie von Schleiermachers Bildungsdenken. Selbstbildung führt konsequent zu einer Offenheit allem gegenüber, was in Menschheit und Welt begegnet: „Wer sich zu einem bestimmten Wesen bilden will, dem muss der Sinn geöffnet sein für Alles was er nicht ist [...] Nur wenn der Mensch im gegenwärt[i]gen Handeln sich seiner Eigenheit bewusst ist, kann er sicher sein, sie auch im Nächsten nicht zu verle[t]zen ...

Die Offenheit widerspricht nicht einer Konzentration, Beschränkung und „[...] feste[n] Richtung der Thätigkeit“. Ja, für Schleiermacher gibt es keinen anderen Weg, um sich zu bilden: „Jeder solle etwas bestimmtes zu werden versuchen und solle irgend etwas mit Stätigkeit und ganzer Seele betreiben.“ Entscheidend ist allerdings, dass dabei „der Sinn nicht mit beschränkt wird.“ Diese Konzentration und Sammlung der Aufmerksamkeit richtet sich pointiert gegen das „fruchtlose encyklopädische Herumfahren“.

Bildung und Erziehung

Der Bildungsbegriff ist für Schleiermacher die Voraussetzung seines Nachdenkens über Erziehung. Bildung kann nicht auf Erziehung reduziert werden: „Zeigt mir Jemand, dem Ihr Ur-theilskraft, Beobachtungsgeist, Kunstgefühl oder Sittlichkeit angebildet und eingeimpft habt.“ Falsche Erziehung bestehe darin, statt „Hilfe und Ergänzung“ zu sein, den jungen Menschen vom „ersten Band der Erziehung an nach fremden Gedanken“ zu beschränken.

Aus: Forschung & Lehre 9/2001, S. 467-468.

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