Miteinander reden - Miteinander lernen

C wie Calvinismus

Von A bis Z. Wegweisende Texte 5


Liebe Leserin, lieber Leser,

unsere Landeskirche, die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), besteht aus evangelisch-lutherischen Gemeinden in der Tradition Martin Luthers, reformierten Gemeinden in der Nachfolge der Schweizer Reformatoren Ulrich Zwingli und Johannes Calvin sowie unierten Gemeinden.

Bis 1822 war etwa die Wormser Friedrichsgemeinde eine reformierte Gemeinde, während die übrigen evangelischen Gemeinden in Worms dem lutherischen Bekenntnis angehörten. Dies änderte sich mit der Rheinhessischen Kirchenunion von 1822, durch die ehemals lutherische und reformierte Gemeinden zu unierten Gemeinden vereinigt wurden.

Was das Kirchenverständnis betrifft, so ist für die reformierte Tradition entscheidend, dass evangelische Kirche keine Pastorenkirche ist, sondern die Leitung von den Presbyterien (Kirchenvorständen) und Synoden ausgeübt wird. Ganz in diesem Sinne heißt es auch in der 4. These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934: „Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes.“

Und auch dies ist eine wichtige Einsicht reformierter Theologie: Kirche erbaut sich von unten, nicht von oben. Es kommt auf die einzelne Gemeinde an, nicht auf die sogenannte Stärkung irgendwelcher höheren „Ebenen“.

Gerne denke ich in diesem Zusammenhang an unsere Exkursion nach Herborn im Oktober 2019 zurück, wo wir die Hohe Schule und das Schloss (Theologisches Seminar) miteinander besucht haben. Es wird sich gewiss lohnen, in puncto reformiertes Christentum in unserer Landeskirche auf gemeinsame Spurensuche zu gehen – ein Thema für eine weitere Exkursion der Evangelischen Erwachsenenbildung, die ich gerne mit Ihnen einmal unternehmen möchte.

Es grüßt Sie freundlich
Ihr Werner Zager

 

Eine politische Zeitansage
Die Reformierten haben die Kirchen geprägt

Von Jens Bayer-Gimm und Christian Prüfer

In Hessen fasste das reformierte Bekenntnis ab 1577/78 in Nassau nördlich der Lahn um Herborn und Dillenburg unter Graf Johann VI. von Nassau-Dillenburg (1536–1606) Fuß. Der Graf gründete 1584 die Hohe Schule in Herborn, die sich in den folgenden Jahrzehnten zu einer der bedeutendsten calvinistischen Hochschulen in Europa entwickelte. Heute befindet sich im Herborner Schloss das Theologische Seminar der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), in dem Vikarinnen und Vikare ausgebildet werden.

Zwei Dutzend Gemeinden in der Landeskirche führen die Bezeichnung „reformiert“ im Dienstsiegel und sind Mitglied im Reformierten Bund. Die Zahl wird von dem oberhessischen Propst Klaus Eibach geschätzt, der sich als „Außenposten der reformierten Gemeinden im Leitenden Geistlichen Amt“ bezeichnet. Die hessen-nassauische Kirchenordnung sieht jeweils einen Vertreter der Reformierten, der Lutheraner und der Unierten in dem Leitungsgremium vor. Daneben ist Eibach von der EKHN delegiert in die Kirchenleitung des Reformierten Bundes, des „Moderamens“.

Außer in Nord-Nassau gibt es in der EKHN einzelne reformierte Gemeinden in ehemals kurpfälzischen Gebieten im Odenwald, in Oberhessen und in Frankfurt und Offenbach. In den beiden Städten hatten sich wallonische und flämische Glaubensflüchtlinge aus den spanisch regierten Niederlanden niedergelassen.

 Über der Kirchentür prangt ein französischer Bibelspruch

lm Gebiet der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck hat Calvin vor allem im nördlichsten und südlichsten Zipfel Spuren hinterlassen. In Hanau wurde 1597 unter Graf Philipp Ludwig II. (1576–1612) die Neustadt für calvinistische Flüchtlinge aus den spanischen Niederlanden und Frankreich gebaut. Noch heute gibt es dort eine eigenständige wallonisch-niederländische Kirchengemeinde mit mehr als 1000 Mitgliedern, die nicht der Landeskirche angehört. Im Norden wurde 1699 das heutige Städtchen Bad Karlshafen als „hugenottische Planstadt“ von Landgraf Karl von Hessen-Kassel (1654–1730) gegründet. Es diente aus Frankreich geflohenen Hugenotten zur Ansiedlung. Das dort befindliche Hugenottenmuseum zeigt im Sommer eine Sonderausstellung darüber, wie die Einwanderer ihr Gemeindeleben in der Fremde nach calvinistischem Vorbild gestalteten.

In den Orten dieses Landstrichs findet man typisch reformierte Predigerkirchlein, gelegentlich prangt noch wie etwa in der Ortschaft mit dem schönen Namen Gewissenruh über der Kircheneingangstür ein Bibelzitat in französischer Sprache. Neben den Hugenotten siedelten sich dort auch Waldenser an, die ebenfalls wegen ihres Glaubens verfolgt wurden. In Gottstreu widmet sich ein Museum ihrer Geschichte.

Eine Touristenattraktion ist der alljährliche Fastnachtsumzug im „Hugenottendorf“ Kelze, der traditionell am Aschermittwoch gefeiert wird – geschichtlich gesehen ein Zeichen des Protests gegen die katholische Kirche und die am Aschermittwoch beginnende Fastenzeit. Zum Mayencefest am ersten Sonntag im Mai ziehen dreijährige Mädchen in Trachten, gekrönt von einer Blumenkrone, von Haus zu Haus und singen ein französisches Lied.

Die Reformierten haben nach Aussage ihrer Vertreter in der EKHN die Landeskirche mitgeprägt. Sie pflegten das synodale Kirchenverständnis, erklärt Propst Eibach. Die Leitung der Gemeinde sei demnach Aufgabe der Gemeindemitglieder, die diese nicht an den Pfarrer abgäben, sondern gemeinsam mit ihm erfüllten. Außerdem seien es gerade die Reformierten, die Theologie und politisches Handeln aufeinander bezogen. „Theologie ist politische Zeitansage“, sagte Eibach. Die Reformierten haben sich organisiert im „Reformierten Konvent“. 40 Pfarrer, 20 weitere persönliche Mitglieder und die reformierten Gemeinden gehören ihm an. Der Konvent formuliere bei seinen Zusammenkünften dreimal im Jahr die reformierte Sicht auf die Kirchenreformen und veranstalte Diskussionen, so zum Asylrecht oder zur Weltwirtschaft, erläutert die Vorsitzende, Pfarrerin Mechthild Gunkel.

 

Die Wertschätzung des Alten Testaments

Die Reformierten bringen nach den Worten von Gunkel die Wertschatzung des Alten Testaments in die Kirche ein, für den Gottesdienst den Psalmengesang und eine schlichte Liturgie. Vor allem stärkten sie die demokratischen synodalen Strukturen der Landeskirche und wendeten sich gegen eine Änderung der Kirchenordnung, die die Rechte der Gemeinden einschränken würde.

Der Direktor des Theologischen Seminars Herborn, Peter Scherle, sieht reformierte Grundzüge eingeschmolzen in die Grundlagen der EKHN. So entspreche die Formulierung des Grundartikels der Kirchenordnung, dass die hessen-nassauische Kirche ihr Bekenntnis jederzeit neu zu bezeugen habe, reformiertem Denken. Nach reformiertem Verständnis seien Bekenntnisse zeitgebunden und müssten immer wieder aktualisiert werden.

Auch die „ausgeprägte Mitwirkungskultur von Laien“ in Kirchenvorständen und Synoden verweist nach den Worten von Scherle auf reformierte Wurzeln. Denn anders als die Lutheraner, die die Leitung einer Kirchengemeinde auf das Pfarramt konzentrierten, betrachteten die Reformierten nach ihrer traditionellen Vier-Ämter-Lehre die Ältesten, Lehrer, Diakone und Pfarrer als gleichrangig in der Leitung. Dagegen bezeichnet der Kirchenhistoriker und ehemalige hessen-nassauische Oberkirchenrat Karl Dienst es als Mythos, einen „antihierarchischen“ Zug der Kirchenordnung auf die reformierte Tradition zu begründen. Die reformierten Kirchen von Nassau-Dillenburg, von Solms-Braunfels und der Kurpfalz seien obrigkeitsbestimmte Landeskirchen und keine „Gemeindekirchen“ gewesen. Hinter den Artikeln der Kirchenordnung, die reformiert klingen, stehe nur zum Teil reformierter Einfluss, pflichtet der Jurist am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt, Stefan Ruppert, bei. „Mindestens ebenso prägend dürfte innerhalb der Gruppe um Martin Niemöller der Wille gewesen sein, den Weg des Kirchenkampfs weiter zu gehen und nicht wieder in tradierte Organisationsschemata zu verfallen.“

Aus: Evangelische Sonntags-Zeitung vom 12.4.2009, S. 11.

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