Miteinander reden - Miteinander lernen

D wie Demokratie.

 

Von A bis Z. Wegweisende Texte 6

Demokratie

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

vor mittlerweile fünfunddreißig Jahren veröffentlichte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) die Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“. Der Göttinger Juraprofessor Hans Michael Heinig, der auch das Kirchenrechtliche Institut der EKD leitet, schildert in seinem Beitrag, wie es zur Demokratie-Denkschrift kam und was an ihr nach wie vor aktuell ist.

Gerade in den letzten Jahren mussten wir leider weltweit ein Erstarken autoritärer Regime erleben. Umso mehr dürfen wir hier in Deutschland dankbar sein für die Entfaltungsmöglichkeiten, die uns ein demokratisches Staatswesen bietet.

Die Demokratie-Denkschrift macht deutlich, dass es eine große Fülle von Berührungspunkten und Übereinstimmungen zwischen protestantischem Selbstverständnis und den Leitgedanken einer Demokratie gibt. Darum ist es für uns Evangelische ein besonderes Anliegen und eine innere Verpflichtung, für die Werte der Demokratie mit Wort und Tat einzutreten. Gelegenheiten bieten sich dafür viele.

Es grüßt Sie freundlich
Ihr Werner Zager


Zur Verantwortung berufen

Was von der EKD-Denkschrift zur Demokratie geblieben ist

Von Hans Michael Heinig

Das Urteil, das der Münchner Systematiker Trutz Rendtorff 1983 über den westdeutschen Protestantismus fällte, war harsch und unmissverständlich: „Demokratieunfähigkeit“ warf er ihm vor. Rendtorff war damals neben Wolfgang Huber der führende evangelische Ethiker. Demokratieunfähig? War der Protestantismus in Deutschland nicht die religionskulturelle Strömung, die es mit der Staatsloyalität immer etwas übertrieb? Erst den regionalen Fürsten treu, dann dem preußisch-deutschen Kaiser ergeben, dem Nazismus verfallen und nach 1949 geläutert verfassungspatriotisch, bundesrepublikanisch-staatstragend?

Im Übergang von den Siebziger- zu den Achtzigerjahren formierte sich der politisch aktivistische Teil des Protestantismus neu. Der Protest gegen den NATO-Doppelbeschluss und die friedliche Nutzung der Atomenergie wurde maßgeblich aus den Reihen der evangelischen Kirche befeuert, die sich formierende Ökobewegung fand unter engagierten Christen reichlich Zulauf. Der Protestantismus zeigte sich auf Kirchentagen bewegt. Die Befindlichkeit changierte zwischen Weltuntergangsstimmung und utopistischem Enthusiasmus. Die politische Theologie, ursprünglich ein mit dem Juristen Carl Schmitt (1888–1985) verbundenes katholisch-konservatives Unterfangen, erlebte unter neomarxistischen Vorzeichen ein Revirement. Man forderte zivilen Ungehorsam und postulierte ein Widerstandrecht gegen Entscheidungen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, verspottete die prozedurale Dimension der Demokratie und desavouierte sie als bloße Förmlichkeit, die Legalität erzeuge, aber keine Legitimität.

Gegen diese Grundstimmung in Teilen der evangelischen Kirche richtete sich Rendtorffs Diagnose der „Demokratieunfähigkeit“. Sein Vorwurf: Der Protestantismus versage wie in der ersten deutschen Republik. In der Tat spielten für deren Untergang Parlamentsverachtung und die Gegenüberstellung von Legalität und Legitimität eine wichtige Rolle.

Abhilfe gegen antiparlamentarischen protestantischen Zeitgeist sollte nach Rendtorffs Vorstellung ein protestantisches Konsenspapier schaffen, das den freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaat und die repräsentativ-demokratische Regierungsform würdigt. Erarbeitet wurde es von der „Kammer für Öffentliche Verantwortung“ der EKD, unter Leitung von Rendtorff, in Form einer Denkschrift. Sie trug den Titel „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“.

Politische Selbstverständigung

Die Denkschrift, die vor 30 Jahren veröffentlicht wurde, gilt als wichtiger Beitrag der EKD zur politischen Selbstverständigung der westdeutschen Gesellschaft. Und sie dient bis heute als maßgebliche Orientierungsmarke für die Verhältnisbestimmung von Protestantismus und Demokratie. Kirche und Politik berufen sich auf diese Denkschrift – sogar, wenn Muslimen vorgehalten wird, sie hätten ein vergleichbares Dokument bis heute nicht vorzuweisen.

Die EKD-Kammer für Öffentliche Verantwortung stand seit Gründung der Bundesrepublik für eine Öffnung der Kirche gegenüber der Gesellschaft. Protestantische Eliten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik sollten in die kirchliche Beratung eingebunden werden und kirchlichen Einfluss steigern – mit Erfolg: Die Ostpolitik der sozialliberalen Regierung unter Willy Brandt wurde hier zum Beispiel vorgedacht.

Anfang der Achtzigerjahre sollte die Kammer das Verhältnis der evangelischen Kirche zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik neu bedenken. Maßgebliche Akteure in der Kammer waren neben Rendtorff Erhard Eppler, Roman Herzog, Wolfgang Huber und Jürgen Schmude. Die konkrete Themenfindung gestaltete sich zunächst mühsam: Während die Mehrheit Rendtorffs Anliegen folgte, die Besonderheiten der demokratischen Staatsform zu würdigen, opponierte eine kleinere Gruppe um Eppler gegen das Ansinnen. Sie wollten Fragen der Wirtschaftsordnung, Risiken technologischer Entwicklungen und die Umweltfrage, Akzeptanzverluste der Demokratie und neue Formen politischer Beteiligung verhandelt wissen. Dieser Grundkonflikt schwelte bis zum Abschluss der Arbeit. Insbesondere Eppler übte während der mehrjährigen Entwurfsphase scharfe Kritik an den Textentwürfen: „etwas kritisch angereicherte Dankadresse der evangelischen Kirche an unseren Staat“, „Darstellung einer Bilderbuch-Demokratie“. Die Kammermehrheit suchte die Anliegen der Minderheit durch punktuelle redaktionelle Änderungen zu integrieren und ein Sondervotum zu verhindern. So wurde die Endfassung einstimmig bei einer Enthaltung beschlossen.

Von bleibender Relevanz sind vor allem die theologischen Grundlegungen. Sie beginnen programmatisch mit dem Satz: „Als evangelische Christen stimmen wir der Demokratie als einer Verfassungsform zu, die die unantastbare Würde der Person als Grundlage anerkennt und achtet.“ Die evangelische Tradition kenne keine allgemeine Staatslehre und die Demokratie berufe sich auf kein bestimmtes religiöses Bekenntnis, sei keine „christliche Staatsform“. Aber die positive Beziehung von Christen zum demokratischen Staat des Grundgesetzes „ist mehr als äußerlicher Natur; sie hat zu tun mit den theologischen und ethischen Überzeugungen des christlichen Glaubens“.

Besondere Nähe

Die besondere Nähe und innere Beziehung zwischen Protestantismus und Demokratie wird in vier Denkbewegungen entfaltet: Zunächst wird die Bedeutung der Menschenwürde herausgestrichen: „Grundelemente des freiheitlichen demokratischen Staates sind Achtung der Würde des Menschen, Anerkennung der Freiheit und der Gleichheit. Daraus folgt das Gebot politischer und sozialer Gerechtigkeit. Der Gedanke der Menschenwürde ist inhaltlich eine Konsequenz der biblischen Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen als Geschöpf Gottes (Gen. 1,27).“ Auch die Leitideen Freiheit und Gleichheit hätten christliche Wurzeln, wiewohl dies von den Kirchen „über lange Zeit verkannt“ worden sei.

Sodann wird die traditionelle Obrigkeitslehre gleichsam gegen den Strich gebürstet. Die christliche Sündenlehre wird nicht wie traditionell als Argument für den Obrigkeitsstaat, sondern für den demokratischen Verfassungsstaat angesehen. In der reformatorischen Lehre kommt der politischen Gewalt nach göttlichem Gebot die Aufgabe zu, in der Welt der Sünde „ein Mindestmaß an Ordnung“ zu wahren. In Sünde verstrickt seien aber nicht nur die Regierten, sondern auch die Regierungen. Und damit rechne die Demokratie. Sie etabliere Begrenzungen und Kontrollen und schütze vor Missbrauch.

Neben der Sünde sei die Gabe der Verantwortung in den Blick zu nehmen. Die „einseitige“ Betonung der „Sündhaftigkeit und Fehlbarkeit des Menschen“ habe in der Kirche lange Zeit „zu einer tiefen Skepsis gegenüber der modernen Demokratie ... geführt“. Wer von der Würde des Menschen rede, müsse aber auch dessen Verantwortungsfähigkeit und Verantwortungspflicht in Rechnung stellen. Die Bibel fordere geradezu die politische Verantwortung der Menschen. Verwiesen wird auf Jeremia 29,7: „Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum Herrn; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s auch euch wohl.“

Das führt zu einer neuen Perspektive auf die lutherische Berufslehre: „Die politische Verantwortung ist im Sinne Luthers ‚Beruf‘ aller Bürger in der Demokratie.“ Doch nicht nur die lutherische Ordnungslehre, sondern auch die Barmer Theologische Erklärung von 1934, das Gründungsdokument der Bekennenden Kirche, wird einer Relektüre unterzogen: Wenn dort davon die Rede sei, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe habe, in der noch nicht erlösten Welt unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen, dann richte sich diese Anordnung in der Demokratie „an die politische Verantwortung der Bürger, die diesen Staat bilden. Die Art und Weise, wie der Staat durch seine Staatsorgane seine Aufgabe wahrnimmt, ist von der politischen Verantwortung der Bürger abgeleitet; sie ist ihr nicht übergeordnet.“

Ein dritter Argumentationsstrang widmet sich der differenzierten Zuordnung von weltlicher und geistlicher Sphäre. Trotz, oder genauer: gerade wegen „der besonderen Nähe ... zwischen den geistigen Grundlagen der demokratischen Staatsform und dem christlichen Menschenbild“ sei zwischen „dem geistlichen Auftrag der Kirche und dem weltlichen Auftrag des Staates“ zu unterscheiden. Erst diese Unterscheidung erlaube und ermögliche eine positive Beziehung zwischen beiden. Politik bilde keinen Heilsersatz. Vielmehr sei „jedem totalen Anspruch“ des Staates zu widersprechen. Die Religionsfreiheit markiere eine zwingende Begrenzung staatlicher Loyalitätsforderungen. Der Mensch sei „auf politische Gemeinschaft angewiesen“, doch die Demokratie kenne Grenzen der Vergemeinschaftung. Sie fördere „unterschiedliche Lebensauffassungen, Überzeugungen und Lebensstile“ und erwarte wechselseitige Toleranz. Sie ermögliche gerade, „mit Differenzen verschiedenster Art politisch zu leben“. Der demokratische Staat sei „ausdrücklich kein ‚christlicher‘ Staat“. Der vierte Gedankenstrang betont die Offenheit demokratischer Willensbildung für „prophetische Kritik“. Zur demokratischen Herrschaftslegitimation und Machtkontrolle gehöre „das freie Funktionieren der Öffentlichkeit“. Politische Repräsentanten müssten sich „an ethischen Maßstäben messen und von anderen darauf ansprechen lassen“.

Konflikt umgangen

In den Beratungen der Denkschrift war besonders die Frage umstritten, ob sich Kritik auch in Rechtsungehorsam niederschlagen kann. Ausführlich stellt die Denkschrift die besonderen Legitimationsleistungen der Demokratie heraus, der auch ethisch – über die Gehorsamspflicht gegenüber jeder staatlichen Ordnung hinaus – eine besondere Qualität zugeschrieben wird. Folgt man diesem Gedankengang, wird ethisch begründeter ziviler Ungehorsam selbst zum ethischen Problem. Die Denkschrift versucht, dieses Konfliktfeld zu umgehen, indem zu besonderer Sensibilität im Umgang mit denjenigen aufgerufen wird, die sich zum Widerstand berufen fühlen: „Zum freiheitlichen Charakter einer Demokratie gehört es, dass die Gewissensbedenken und Gewissensentscheidungen der Bürgerinnen und Bürger gewürdigt und geachtet werden. Auch wenn sie rechtswidrig sind und den dafür vorgesehenen Sanktionen unterliegen, müssen sie als Anfragen an Inhalt und Form demokratischer Entscheidungen ernstgenommen werden.“

Die Denkschrift wurde am 17. Oktober 1985 veröffentlicht und erschien in hoher Auflage. Die Medien nahmen sie positiv auf. Und auch bei den Parteien überwog das Wohlwollen. Harsche Kritik kam von den Grünen. Sie bezeichneten die Denkschrift als „ein Stück gehoben-reflektierte Staatsbürgerkunde“ und „sozialethische Konfektion von der Stange“. Die Bild-Zeitung warf der EKD ein unbotmäßiges Verständnis für „rechtswidrigen Protest“ vor. Und Berlins Innensenator Heinrich Lummer (CDU) sah in der Denkschrift sogar eine Legitimation für „Hausbesetzungen und Pflasterstein-Werfer“.

Solche Kritik war alsbald vergessen. Das Ergebnis der konfliktreichen Beratungen brachte ein hohes Maß an inhaltlicher Übereinstimmung über die Deutung der demokratischen Staatsform im deutschen Protestantismus zum Ausdruck, ohne den Konsens durch Inhaltsleere oder Formelkompromisse zu erkaufen.

Sicher wurde die Europäisierung und Internationalisierung politischer Ordnungen nicht bedacht. Doch die europäische Politikverflechtung, wie wir sie heute kennen, hat sich erst nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ausgebildet. Kein Vorwurf also.

Schwerer wiegt, dass die Denkschrift zu Teilen von der Vorstellung geprägt ist, der deutschen Gesellschaft liege ein moderat säkularisierter christlicher Grundkonsens zugrunde. Aber diese Annahme entsprach schon in den Achtzigerjahren nicht dem Stand der politischen Theorie. Und heutzutage ist er erst recht unplausibel. Und unentschlossen wirkt die Denkschrift in der Frage, ob das Gemeinwohl im demokratischen Streit zwischen unterschiedlichen Interessen ermittelt wird oder objektiv feststeht. Ähnliche Spannungen sind zwischen der Anerkennung von Eigengesetzlichkeiten der Politik und deren moralisierender Infragestellung zu beobachten.

Aber in den theologischen Fundierungen hat die Denkschrift zentrale Einsichten der politischen Ethik des Protestantismus gebündelt und zugespitzt: die Umstellung auf das Zentralnormativ der Menschenwürde, die Anverwandlung der Menschenrechte, die kluge argumentative Indienstnahme der christlichen Sündenlehre für eine Verteidigung der demokratischen Herrschaftsform, der Rückgriff auf die Berufslehre Luthers zwecks Verpflichtung zur politischen Mitverantwortung der Christen, die Unterscheidung von letzten und vorletzten Dingen und damit die Entzauberung des Politischen sowie die Anerkennung der aus der Weltlichkeit der Politik auch theologisch erschließbaren Rationalität und Funktionalität der Demokratie – gerade unter den Bedingungen moderner Gesellschaften mit den ihnen eigenen Komplexitäten.

Aus: Zeitzeichen Nr. 10/2015, S. 19-21.

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