Miteinander reden - Miteinander lernen

E wie Erziehung

Von A bis Z. Wegweisende Texte 8

Erziehung

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

mit dem Elternsein geht eine hohe Verantwortung für die Erziehung der Kinder einher. Die damit sich stellende Aufgabe gilt es, mit Herz und Verstand, mit Liebe, aber auch mit Konsequenz wahrzunehmen.

Schon seit geraumer Zeit sind in unserer Gesellschaft Tendenzen zu beobachten, dass man sich gerne dieser verantwortungsvollen Aufgabe entzieht – sei es, dass man sie an andere delegiert (Erzieherinnen und Erzieher, Lehrer und Lehrerinnen in Kindergärten und Schulen als Ganztagseinrichtungen) oder überhaupt nicht als solche anerkennt.

Doch wird damit verdrängt, dass Kinder – natürlich entsprechend ihrem Alter und ihrer Entwicklung – der Anleitung und Anregung vonseiten ihrer Mütter und Väter bedürfen. Es ist wichtig, dass wir ihnen Leitbilder mit auf ihren Weg geben. Das heißt selbstverständlich nicht, dass Kinder alles kritiklos zu akzeptieren hätten. Vielmehr ist gerade entscheidend, dass sie ein Gegenüber haben, mit dem sie sich auseinandersetzen können – und zwar in dem Wissen darum, dass sie angenommen und geliebt sind.

Es ist auch an uns als Erwachsenen, dass wir Kindern und Jugendlichen helfen, sich Lebensbereiche und Erfahrungswelten zu erschließen. Dies heißt wiederum nicht, dass die damit verbundenen Prozesse nur in einer Richtung verlaufen. Hier gibt es auch ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Unvergessen ist mir meine erste Stunde im Geschichtsunterricht, in der unser Geschichtslehrer uns Schüler als seine „Kollegenanredete. Damit wollte er selbstverständlich nicht seinen Wissensvorsprung einebnen, aber er wollte uns im 7. Schuljahr vermitteln, dass wir uns im Unterricht auf eine gemeinsame Entdeckungsreise begeben, in der es auch auf unsere Beobachtungen, Fragen und Erkenntnisse ankommt.

Ich lade Sie ein, mit dem Berliner Erziehungswissenschaftler, Psychologen und Psychoanalytiker Bernd Ahrbeck neu über Erziehung nachzudenken.

Es grüßt Sie freundlich
Ihr Werner Zager

 

Das Schlüsselkind als Held der neuen Zeit

Über die Verflüchtigung und Wiederbelebung der Erziehungsidee

Von Bernd Ahrbeck

Die Leitidee des „selbstständigen Kindes“ spielt im aktuellen pädagogischen Kindheitsdiskurs eine prominente Rolle. „Selbstständige“ Kinder und Jugendliche regeln ihr Alltagsleben in weiten Bereichen selbst und vermögen auch in kritischen Lebenssituationen kompetent über sich zu entscheiden. Angewiesen auf andere sind sie kaum noch. Die gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Grundlagen dieses Bildes einer neuen Kindheit werden dargestellt und kritisch betrachtet. Es zeigt sich, dass sie generationale Unterschiede verleugnen und damit zwangsläufig zu einer Schwächung der Erziehungsidee führen. Demgegenüber wird die Bedeutung generationaler Differenzierungen betont und für die Wiederbelebung der Erziehungsidee plädiert.

In den 50er und 60er Jahren repräsentierte das Schlüsselkind ein Negativbild der Kindheit. Schlüsselkinder fanden nach der Schule eine leere Wohnung vor. Sie blieben auf sich allein gestellt und mussten, so die damalige Auffassung, viel zu früh mit sich selbst zurechtkommen und für sich selbst sorgen. Zu dem Bild eines einsamen und emotional unterversorgten Kindes gesellte sich ein weiteres. Das eines Kindes, das – wiederum überfordert auf sich allein angewiesen – auf der Straße in schlechte Gesellschaft kam, Erfahrungen ausgesetzt war, denen es noch nicht gewachsen sein konnte. Diese Kinder mussten auf eine angemessene Unterstützung und auch Erziehung durch die Erwachsenen verzichten. Nicht aus Bösartigkeit der Eltern oder Elternteile, sondern durchaus zu ihrem Bedauern. Denn eine solche Kindheit war überwiegend aus ökonomischen Gründen erzwungen.

Vom Schlüsselkind spricht heute niemand mehr, obgleich die Lebenssituation vieler Kinder und Jugendlicher der früheren Situation durchaus ähnelt. Inzwischen hat sich die vorherrschende Auffassung darüber gewandelt, was Kinder für eine gute Entwicklung von anderen brauchen und was sie sich selbst geben können. Einerseits nehmen gegenwärtig Erziehungsfragen im öffentlichen Diskurs einen breiten Raum ein. Dass Kinder Grenzen brauchen, ist ebenso in aller Munde wie der Ruf danach, dass wieder mehr erzogen werden soll. Zugleich trifft die geforderte Stärkung des Erziehungsgedankens auf einen mächtigen Gegenwillen, der genau dies verhindern will. Er bedient sich einer Reihe weit verzweigter, verdeckter wie offener Anleihen, die sich nicht zuletzt in wissenschaftlich gefeierten Neuerungen finden – in der Erziehungswissenschaft, der Psychologie und auch in der Kindheitsforschung. Gemeinsam tragen sie dazu bei, dass die vordergründig propagierte Erziehungsidee wieder zurückgenommen wird. Kinder und Jugendliche sind zu „Experten ihres Lebens“ geworden, mit hoher Autonomie und Unabhängigkeit. Sie bleiben, nunmehr scheinbar mit gutem Grund, auf sich allein gestellt. Das Schlüsselkind ist zum Helden der neuen Zeit geworden.

Eine wesentliche Grundlage dafür findet sich in einem gewandelten Verständnis der Kindheit. Als Leitidee kann die These vom „selbstständigen Kind“ gelten, die im aktuellen pädagogischen Kindheitsdiskurs eine prominente Rolle spielt. Das „selbstständige Kind“ verfügt, wie Luise Winterhager-Schmid (2002) ausführt, bereits früh über erhebliche Fähigkeiten und vielfältige Kompetenzen. Kindern und erst recht Jugendlichen wird deshalb zugetraut, dass sie ihr Alltagsleben in weiten Bereichen eigenverantwortlich regeln können. Die Anbahnung und Ausformung persönlicher Beziehungen gehört ebenso dazu wie eine selbstständige und gleichwohl kompetente Gestaltung von Lernprozessen. Ihre oft gut entwickelte Medienkenntnis und Computerbeherrschung hinterlässt im Erleben der Erwachsenen nachhaltige Spuren. Sie erscheint ihnen als symptomatischer Beleg für eine weit vorangeschrittene Lebensbeherrschung überhaupt, zumal dann, wenn sie hierin Erwachsene übertreffen. Selbstständige Kinder und Jugendliche können gut für sich selbst sorgen, auch wenn sie vor besondere Aufgaben gestellt oder gar kritischen Lebensereignissen ausgesetzt sind. Entscheidende Weichenstellungen nehmen sie in eigener Verantwortung vor, mehr in Absprache mit Gleichaltrigen als dass sie dazu Erwachsene fragen müssten. „Ist Erziehung sinnlos?“ (Harris 2002) – so lautet der Titel eines pädagogischen Bestsellers‚ der kürzlich mit viel Beifall bedacht wurde. Und das nicht zufälligerweise.

Die These vom „selbstständigen Kind“ korrespondiert mit (vermeintlichen) psychischen und sozialen Entwicklungsnotwendigkeiten, die als zwingende Folge von Globalisierungsprozessen angesehen werden. In Zeiten schnellen gesellschaftlichen Wandels, so eine gängige Auffassung, verlieren bisher sicher geglaubte Zukunftsvorstellungen an Wert und Kraft. Man wisse nicht mehr, was Kinder für ihr zukünftiges Leben brauchen und deshalb auch nicht, wohin man ihren Weg leiten soll. Ihre Lebensgestaltung werde weitgehend individualisiert sein, mit enormen Gestaltungsspielräumen versehen, von Unvorhersehbarem geprägt. Flexibilität gilt als unumgängliche Notwendigkeit und damit die Fähigkeit, sich schnell auf Neues einzustellen und Altes zu vergessen. In den Hintergrund gerät all das, was auf Langfristigkeit ausgelegt ist, bei beruflichen Tätigkeiten wie auch in persönlichen Beziehungen. Sicher sei nur der Wandel. Auf Grund einer solchen Ungewissheit verbiete sich ein zielgerichtetes Einwirken auf Kinder und Jugendliche. Die Erwachsenen können den Kindern nichts Wichtiges mehr mit auf den Weg geben. Der klassische Erziehungsbegriff werde deshalb immer fragwürdiger.

Ohne Risiko bleibt eine solche Entwicklung für Kinderund Jugendliche jedoch nicht. Davon ist in den Schriften der Modernisierungsbefürworter erstaunlich wenig die Rede, viel weniger jedenfalls als von dem risikoreichen Leben, das Erwachsene führen. Es dominiert eine fast ungebrochene Zukunftsgläubigkeit, die sich auf die Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen beruft. Angewiesen auf andere sind sie demzufolge kaum noch. Mehr noch: Den Heranwachsenden wird nicht nur sehr viel zugetraut, sondern auch erhebliches abgefordert. Sie sollen mit ihren Möglichkeiten allein zurechtkommen, ohne dass sie andere allzu sehr beanspruchen und belasten.

Ein Rückzug der Erwachsenen aus dem Erziehungsgeschehen erscheint auf Grund dieser Vorgaben fast zwingend. Die Erziehungsidee verblasst, sie verliert an Bedeutung und Gewicht. Das dem Erziehungsgeschehen immanente Spannungsgefüge zwischen Selbst- und Fremderziehung, bereits für Herbart grundlegend, verschiebt sich immer stärker zum erstgenannten Pol, dem der Selbsterziehung. Das Vertrauen auf die inneren Wachstums- und Selbstkonstruktionskräfte der Nachwachsenden ist dabei immens, so groß, dass die Erziehung durch andere, die Fremderziehung zu einem peripheren Phänomen wird. Mitunter wird sogar vom „Ende der Erziehung“ gesprochen. Kinder und Jugendliche benötigen demnach keine Erziehung im herkömmlichen Sinne mehr. Sie sollen sich, kaum übertrieben formuliert, selbst genug sein.

Dazu passt gut, dass inzwischen radikal konstruktivistische und mit ihnen verbundene systemische Theorien in die Pädagogik Einzug gehalten haben. Sie spiegeln, auf der Höhe der Zeit, die eben skizzierte Entwicklung besonders prägnant wider. Kinder und Jugendliche konstruieren sich demnach ihre Lebenswelt selbst. Sie organisieren ihr Leben aus sich heraus. Sie sind es, die über ihre eigene Lern- und Entwicklungsgeschichte bestimmen. Sie entscheiden darüber, was sie von den äußeren Angeboten annehmen und was nicht. Ihre Autonomie – oder besser: Autarkie – wird für so hoch gehalten, dass von außen kommende Einflüsse so gut wie folgenlos bleiben. Der herkömmliche Pädagogik- und Sozialisationsbegriff erhalte dadurch die lang verdiente, längst fällige Ohrfeige, wie Huschke-Rhein nicht ohne Triumph bemerkt. Die Erziehenden müssten ihre Veränderungsansprüche aufgeben und sich zugleich von ihren Kontrollwünschen trennen. Erziehung sei kaum mehr möglich. Sie werde zu Beratung und könne sich allenfalls noch als Angebot verstehen. „Jede Erziehungsmaßnahme erhält ... den Charakter eines Angebots, das angenommen oder abgelehnt oder verändert werden kann“ (Huschke-Rhein 1998, 26). Der Einfluss und auch die Macht der Erziehenden ist damit auf ein Minimum reduziert. Sie werden zu schlichten Begleitern einer fremdbestimmten Entwicklung. Die Kinder und Jugendlichen hingegen mutieren zu weitgehend autonomen Schöpfern ihrer selbst, die anderer kaum noch bedürfen – das ist das Leitbild einer systemisch-konstruktivistischen „Pädagogik“.

In die gleiche Richtung weist eine andere bedenkliche Entwicklung. Die Tendenz, öffentliche Erziehung zunehmend als Dienstleistung zu verstehen. Die Kundenmetapher hat inzwischen Einzug vor allem in die Sozialpädagogik gefunden. Auch in den Schulen wird ihre Bedeutung zukünftig steigen. Sozialpädagogen, Erzieher und Lehrer werden zu Anbietern pädagogischer Dienstleistungen, Eltern und Kinder wählen aus bestehenden Angeboten aus. Was auf den ersten Blick als Demokratisierung und erweitertes Beteiligungsrecht erscheint, hat einen doppelten und durchaus brüchigen Boden. Solange es um unverbindliche pädagogische Freizeitangebote geht, mag eine marktwirtschaftlich geprägte Wahlfreiheit unproblematisch sein. Sie führt jedoch zu einer untragbaren Situation, wenn Erziehungsnotwendigkeiten betroffen sind. Dies ist im (sozial-)pädagogischen Umgang mit Kindern der Fall, die in schwere persönliche Krisen geraten sind und sich in Grenzsituationen befinden. Zum Beispiel bei delinquenter und dissozialer Entwicklung oder auch bei Prostitution in einem sehr jungen Lebensalter. Ein ausschließlicher Angebotscharakter von Hilfsmaßnahmen, den Eltern und Kinder beliebig ablehnen können, zieht nicht selten katastrophale Folgen nach sich. Erzieherisch bedeutsame persönliche Beziehungen werden vermieden. Erziehung findet überhaupt nicht mehr statt: Unter der Prämisse von Wahlfreiheit und Kundenorientierung oft auch bei denjenigen, die sich selbst am wenigsten helfen können und am stärksten auf Erziehung angewiesen sind.

Gemeinsam ist allen bisher genannten Neuerungen, dass sie die Bedeutung einer generationalen Differenzierung geringschätzen. „Selbstständige“ Kinder und Jugendliche sind nur noch am Rande auf eine andere Generation, die der Eltern, bezogen. Zielvorgaben aus der Erwachsenenwelt erreichen sie im Zeitalter der Globalisierung kaum noch. Sie bleiben weitgehend bedeutungslos: Insbesondere dann, wenn davon ausgegangen wird, dass sich Kinder und Jugendliche im systemisch-konstruktivistischen Sinne selbst erschaffen. Oder auch, wenn sie als Kunden gleichberechtigte Partner auf einem Markt sind, der Einfluss und Macht der Älteren längst abgeschafft hat.

Die Anerkennung einer generationalen Differenz – durch beide Seiten: die Älteren wie die Jüngeren – ist aber die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass Erziehung stattfinden kann. Mit ihrer Missachtung schwindet der Erziehungsauftrag wie auch die Erziehungsfähigkeit der Erwachsenengeneration. Dass die Position der Erziehenden und ihr Ansehen als eine wissende Generation inzwischen stark geschwächt ist, resultiert aus vielfältigen, miteinander verbundenen Einflüssen. Einen wichtigen Meilenstein stellt die 68er-Rebellion gegen eine Elterngeneration dar, die in eine schreckliche Vergangenheit verwoben war und diese Verstrickungen auch nachträglich kaum zu lösen vermochte. Hinzu kommt eine über lange Zeit dominierende erzieherische Grundhaltung, die sich an die humanistische Psychologie anlehnte: Das narzisstische Wachstum wurde zum zentralen Entwicklungsziel. Kinder und Jugendliche sollten ihre inneren Kräfte möglichst ungestört entfalten und den ihnen inne-wohnenden goldenen Kern freilegen – durch eine im Hintergrund bleibende, durch Anerkennung und Bewunderung geprägte Begleitung der Erwachsenen. Konflikte wurden tunlichst vermieden. Heute sind es im weitesten Sinne Globalisierungsfolgen, die als Begründung dafür herangezogen werden, dass sich die Erwachsenengeneration in Erziehungsfragen reserviert verhalten muss.

Übersehen wird jedoch, welchen Schaden eine Erwachsenengeneration anrichtet, die den Nachwachsenden den Gewinn der Erziehung vorenthält. Erziehung dient dazu, dass die ehemals Kleinen psychisch und sozial groß, also zu Erwachsenen werden. Kinder brauchen Erwachsene, die ihnen helfen, Schritt für Schritt diejenigen Beschränkungen zu überwinden, die das Kindsein auszeichnen. Dies kann ihnen, allein auf sich selbst gestellt, nicht gelingen. Kindliche Potenziale verkümmern, wenn sie ungenutzt bleiben. Und sie liegen umso stärker brach, je mehr ihnen Erziehung verwehrt wird. Bereits ein Blick auf die Entwicklung des Lesens zeigt, wie sehr Kinder auf die frühe Anleitung und Anregung anderer angewiesen sind. Erziehung meint kein passives Begleiten welcher Art auch immer. Den Kindern muss vielmehr aktiv, von einer reifen Position aus, ein Weg in das Erwachsenenleben gewiesen werden. Zu ihrem eigenen Nutzen: Denn nur so eröffnet sich ein Zugang zu Lebensbereichen und Erfahrungswelten, die ihnen ansonsten verschlossen bleiben.

Was die Kinder vor allem brauchen, ist Ermutigung, damit sie einen zunächst schwierigen Weg erfolgreich beschreiten können. Unmittelbare Bedürfnisse müssen aufgeschoben und Frustrationen toleriert werden, verbunden mit der Hoffnung und dem Vertrauen darauf, dass sich ein zeitlicher Aufschub lohnen wird. Ohne die Anerkennung eines Mangels, des Eingeständnisses, dass man etwas noch nicht weiß oder kann, wird es keinen persönlichen Fortschritt geben. Insofern liegt eine folgenschwere Illusion in der Annahme, Lernen könne allein spielerisch erfolgen oder dadurch, dass auf unbequeme innere Anforderungen verzichtet wird.

Erziehung beruht darauf, dass es ein Gegenüber gibt, das anerkennt und unterstützt, fördert und leitet, aber auch begrenzt und mitunter streng ist. Oft ist es nicht das affirmative „Ja“, sondern das „Nein“, das die Entwicklung vorantreibt. Kinder brauchen Erwachsene als Angehörige einer anderen Generation, an denen sie sich messen und reiben, von deren Fähigkeiten sie profitieren und mit denen sie sich in positiver Weise identifizieren können. Erziehung lebt von Differenz. Davon, dass es eine Erwachsenenwelt gibt, in die die Kinder erst langsam hineinwachsen. Diese Erwachsenenwelt muss etwas Wertvolles und Erstrebenswertes beinhalten. Nur so wird es für die Nachwachsenden lohnend und gewinnversprechend erscheinen, dem Neuen und Fremden nachzuspüren und Unerreichtes anzustreben. Eine Stärkung der inneren Zeitdimension ist die Folge: Kinder und Jugendliche entwickeln eine Vorstellung davon, dass Zeit etwas ebenso Vergängliches wie Kostbares ist und auch, wie sie die zur Verfügung stehende Zeit für sich selbst nutzen können. Damit ist eine äußerst wichtige, in ihrer Bedeutung oft verkannte Voraussetzung für die kognitive, soziale und emotionale Entwicklung benannt. Sie führt zu einer inneren Sicherheit darüber, was gegenwärtig erreichbar ist, in Zukunft möglich sein wird oder auch die eigenen Fähigkeiten auf Dauer übersteigt. Erreichbares und Unerreichbares lassen sich so differenzieren. Die zur Verfügung stehenden eigenen Möglichkeiten können fruchtbar genutzt und mit Stolz besetzt werden.

Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Erwachsenengeneration über Leitbilder und hinreichend gesicherte Werte verfügt, mit denen sie sich den Heranwachsenden offensiv präsentiert. Denn mit einer Relativierung aller Werte, einer ins Extrem gesteigerten Beliebigkeit von Entwicklungsvorstellungen und einer Verwischung generationaler Differenzen ist der nachwachsenden Generation am allerwenigsten gedient. Ihre Suche nach Selbstachtung und Anerkennung läuft so ins Leere. Sie haben nichts, woran sie sich orientieren können. Auch in Zeiten schneller historischer und gesellschaftlicher Veränderungen gilt, dass Kinder und Jugendliche Vorgaben benötigen, die die Älteren für wertvoll erachten. Mit ihnen können sie sich auseinandersetzen, sich dem Vorgegebenen anschließen, ihm widersprechen oder auch neue Synthesen finden.

Sicherlich ist Erziehung in Zeiten schnellen Wandels schwieriger geworden. Die Reserviertheit, mit der viele Erwachsene Erziehungsaufgaben gegenüberstehen, lässt sich jedoch kaum als ein nahezu unbedingter Reflex auf gesellschaftliche Neuerungsprozesse zurückführen. Im Kern geht es, wie an anderer Stelle ausgeführt (Ahrbeck 2004), um etwas anderes: Die Weigerung vieler Erwachsener, sich selbst in eine als schwierig und belastend erlebte Beziehungsposition zu begeben. Erziehende müssen sich festlegen. In den Erwartungen und Forderungen, die sie an die Kinder stellen, und auch in den Verpflichtungen, die sie sich selbst gegenüber eingehen. Leicht obsiegt dabei allerdings der Zweifel, ob Anforderungen zu Recht gestellt werden und die eingeforderten Entbehrungen zumutbar sind. Insbesondere wird gefürchtet, die Kinder durch ein „Nein“ in ganz basaler Weise und auf Dauer gegen sich aufzubringen. Jedes „Nein“ mutiert, so die angsterregende Fantasie, zu einem „kalten Nein“, das die ganze Beziehung vergiften kann. So, als ob es auch noch heute darum ginge, die Gefahren einer autoritären Unterwerfung und Züchtigung abzuwehren. Die Erziehenden fühlen sich schnell als Versagende, die sich selbst ins Unrecht gesetzt haben. Zu dem schlechten Gewissen gesellt sich die Sorge, beschämt vor den eigenen Idealen dazustehen. Schuld, Scham und Selbstzweifel sind die entscheidenden Themen, die Erziehungsaufgaben gefährlich machen.

Vor diesem Hintergrund ist die Verführung groß, den Herausforderungen der Erziehung auszuweichen. Erziehungsferne Positionen üben deshalb eine starke Faszination aus. Die These von den „selbstständigen“ Kindern und Jugendlichen eignet sich zur Abwehr von Erziehungsaufgaben hervorragend, ebenso wie die vermeintlichen Globalisierungsfolgen, die genannten systemisch-konstruktivistischen Theorien und die marktwirtschaftliche Vorstellung, Erziehung könne kundenorientiert erbracht werden.

Ein wichtiges Faktum wird dabei allerdings geflissentlich übersehen. Es besteht in dem hohen Maß an Angewiesenheit und Abhängigkeit, das auch die moderne Kindheit auszeichnet. Wirkliche Autonomie und Selbstständigkeit setzen, wie die Bindungsforschung überzeugend gezeigt hat, einen gesicherten emotionalen Hintergrund voraus. Dazu bedarf es eines haltenden Rahmens. Er kann sich nur dann entwickeln, wenn die Erwachsenen kindliche Bedürfnisse als solche wahrnehmen. Ihre Wünsche nach Nähe und Schutz, Anleitung und Unterstützung bedürfen eines emotionalen Echos und einer intensiven Anteilnahme. Und nicht nur eines distanzierten Beifalls, der sich auf die äußere Funktionsfähigkeit „selbstständiger“ Kinder bezieht. Dies gilt für ein frühes Lebensalter ebenso wie für die späteren Zeiten einer reifen Differenzierung von den Eltern. Jeweils geht es um die Beziehung von Angehörigen unterschiedlicher Generationen. Jede Art von Nivellierung oder gar Verleugnung generationaler Grenzen wirkt sich deshalb fatal auf die Entwicklung der nachwachsenden Generation aus.

In zehn oder zwanzig Jahren wird man erschrocken sein, wie es möglich war, dass Kinder so sehr durch Selbstständigkeitserwartungen überfrachtet wurden. Und auch darüber, dass Erwachsene die kindliche Angewiesenheit auf die Älteren so hartnäckig übersahen und den Wert von Erziehung geringschätzten. Das Schlüsselkind wird man dann kaum noch als den Helden einer neuen Zeit feiern.

Literatur: Ahrbeck, B. (2004): Kinder brauchen Erziehung. Kohlhammer: Stuttgart. – Huschke-Rhein, R. (1998): Systemische Erziehungswissenschaft. Pädagogik als Beratungswissenschaft. Beltz: Weinheim. – Harris, J. R. (2002): Ist Erziehung sinnlos? Rowohlt: Reinbek. – Winterhager-Schmid, L. (2002): Die Beschleunigung der Kindheit. In: Datler, W. u.a. (Hrsg.): Das selbständige Kind. Psychosozial-Verlag: Gießen, 15-31.

Aus: Forschung & Lehre 4/2005, S. 178-180.


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