Miteinander reden - Miteinander lernen

E wie Europa

Von A bis Z. Wegweisende Texte 9

Europa

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

ist Europa ein Modell mit Zukunft oder ist der Rückzug in den Nationalstaat angesagt? In den vergangenen Jahren konnte man manchmal den Eindruck gewinnen, die politische Entwicklung würde im letzteren Sinne verlaufen. Denken wir nur an das Erstarken rechts-populistischer Parteien oder den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Gemeinschaft.

Aber nicht zuletzt die Corona-Pandemie dürfte gezeigt haben, dass nachhaltige Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit nur durch Kooperation der europäischen Staaten zu erreichen sind. Und dafür sind wiederum Werte und Haltungen entscheidend, die sich dem Christentum verdanken.

Die Ausbreitung und Entwicklung der christlichen Religion ist mit der Geschichte Europas auf das Engste verknüpft. Gerade auch wir als evangelische Christen haben guten Grund, das europäische Projekt als unsere Aufgabe zu sehen, ist doch der Protestantismus von Anfang an eine europäische Erscheinung gewesen.

Das Wormser Lutherdenkmal macht dies sehr gut deutlich. Es will keinen deutschen Nationalhelden propagieren, sondern die gesamteuropäische Dimension der Reformation zum Ausdruck bringen – angefangen bei den sogenannten Vorreformatoren auf den Eckpostamenten, die vier Länder repräsentieren: Frankreich (Petrus Waldus), England (John Wyclif), Böhmen (Jan Hus) und Italien (Girolamo Savonarola), über die beiden Schweizer Reformatoren Jean Calvin und Huldrych Zwingli auf den Portraitmedaillons, bis hin zu den Wappen europäischer Reformationsstädte.

Lassen Sie uns daher als europäische Bürger und Bürgerinnen in Dankbarkeit und Verantwortung dazu beitragen, dass das Modell Europa gelingt: ein Kontinent der Freiheit und des Rechts, der Bildung und der Wissenschaft, der Säkularität und der Toleranz, des Friedens und der Solidarität.

Es grüßt Sie freundlich
Ihr Werner Zager

 

Civis europaeus sum

[Ich bin ein europäischer Bürger]

Vom Römischen Reich bis zum Vertrag von Lissabon: Seit zwei Jahrtausenden hat es immer wieder Versuche gegeben, den Kontinent zu einen. Die Nationalstaaten sind weder das erste noch das letzte Wort der europäischen Geschichte.

Von Gustav Seibt

Wahltage sind die Feiertage der Demokratien: Millionen Bürger großer Länder tun zu einem gemeinsamen Termin dasselbe, auch wenn sie sich dabei unterschiedlich entscheiden. Das ist ein Sinnbild für die Balance von Freiheit und Gleichheit, die für eine demokratische Verfassung nötig ist. Die Europäer wählen seit 1979 ihr gemeinsames Parlament direkt, und seit dem Vertrag von Lissabon gibt es eine europäische Unionsbürgerschaft, die zu den Staatsangehörigkeiten der Mitgliedstaaten automatisch hinzukommt. So zeigen es auch die weinroten Pässe der Europäer an: Wir sind zweifach Bürger.

Das ist erstaunlich, wenn man auf die Geschichte der vergangenen 200 Jahre zurückblickt. Sie führte fast überall in der Welt die politische Form des Nationalstaats zum Sieg, eine historisch beispiellos geschlossene Struktur politischer Organisation. Klare Grenzen, einheitliche Gesetze und Verwaltung, meist eine gemeinsame Sprache, ein kanonisches Bewusstsein von der eigenen Geschichte und ein exklusives Staatsbürgerrecht – das sind Kennzeichen moderner Staaten, wie sie sich in den Vereinten Nationen zu einer Weltgesellschaft versammeln. Nicht immer ist der Nationalstaat demokratisch, doch hat er sich als das bisher passendste Gefäß für große Demokrat

ien erwiesen, die über den Raum von Stadt- und Landgemeinden hinausgehen.

Europa hat die Verfassungsform nationaler Demokratien in jahrhundertelangen Kämpfen entwickelt. Ganz Altes – die biblische Idee vom auserwählten Volk – und viel Neues – Repräsentativverfassung, Gewaltenteilung und bürgerliche Öffentlichkeit – haben dazu beigetragen. Doch so erfolgreich und einleuchtend der Nationalstaat wirkt, so zerstörerisch hat er sich durch seinen exklusiv nationalen Geist erwiesen, durch die erbarmungslosen Wettkämpfe, in die er sich mit seinesgleichen stürzte. Im frühen 20. Jahrhundert drohte er Europa zu zerstören.

Daher versucht Europa seit drei Generationen, seinen wichtigsten politischen Exportartikel zu ergänzen und zu überwinden in übernationalen Formen der Koordination. Sie führen nicht zu einem europäischen Nationalstaat, der kaum vorstellbar ist, aber sie sind schon heute mehr als ein Staatenbund. Wann je zuvor hätten sich so viele verschiedene Länder auf eine gemeinsame Staatsbürgerschaft und gemeinsame Wahlen, auf eine Währung und Tausende gemeinsame Gesetze geeinigt? Wir haben es mit etwas Neuem zu tun. Aber dieses Neue hat viele Voraussetzungen, die, kaum zufällig, vor allem in die vornationale Vergangenheit Europas zurückreichen.

 

Als der Apostel Paulus gekreuzigt werden sollte, berief er sich auf sein römisches Bürgerrecht

Es beginnt beim alten Rom. Das letzte Mal umfasste ein gemeinsames Bürgerrecht einen ähnlich großen europäischen Raum, als Kaiser Caracalla 212 nach Christus das römische Bürgerrecht an alle Provinzen des Imperiums verlieh, somit an alle etwa 55 Millionen freien Bewohner zwischen der Iberischen Halbinsel, Britannien, dem germanischen Limes, Vorderasien und Nordafrika. Die Römer hatten den deutlichsten Bürgerbegriff der Antike entwickelt, der unserer Idee von Staatsbürgerschaft noch immer zugrunde liegt. Römer durften nicht Bürger fremder Städte werden, sehr wohl aber war dies umgekehrt möglich. Und römische Bürger besaßen präzise Vorrechte und Pflichten, sie waren erkennbar an ihren eleganten Togen und durften nicht demütigend bestraft werden, auch nicht in Zeiten, als die Stimmrechte der stadtrömischen Volksversammlung längst verblasst waren.

So berief sich der Apostel Paulus, als er gekreuzigt werden sollte, auf sein Bürgerrecht: Civis romanus sum [Ich bin ein römischer Bürger]. Da dieser stolze Satz in die Apostelgeschichte kam, konnte er nie mehr vergessen werden. Die Römer nutzten ihr Bürgerrecht, um Bundesgenossen, fremde Staatsmänner, neue Truppenteile an sich zu binden, und schufen damit eine herausgehobene Trägerschicht für ihr vielgestaltiges Reich. Selbst wenn Kaiser Caracalla mit dem letzten Schritt, der Ausdehnung des Bürgerrechts auf alle freien Bewohner, nur die Steuerbasis des Reichs erhöhen wollte, zog er doch die Konsequenz eines langen Romanisierungsprozesses. Die Folge wirkt ganz modern: In der Spätantike hatten die meisten Bewohner des römischen Reichs zwei Bürgerschaften: Sie waren Athener und Römer, Alexandriner und Römer oder Moguntiner, also Mainzer, und Römer.

Die Christen haben immer gewusst, dass ihr Aufstieg zur Weltreligion den befriedeten Raum des römischen Imperiums voraussetzte. Nicht umsonst hat der Evangelist Lukas die Geburt Christi mit der Regierungszeit von Kaiser Augustus verknüpft und damit auch das Imperium biblisch gemacht. Der römische Papst beerbte den römischen Imperator und dirigierte irische Missionare nach Deutschland oder setzte spanische Mönche als Bischöfe in Polen ein. Außerdem erneuerte er mit germanischen Herrschern die Kaiserwürde: Er transferierte das Imperium, das einst von Rom nach Ostrom gewandert war, so lautete die Doktrin, von den Griechen auf die Franken und dann zu den Deutschen.

 

Im Heiligen Römischen Reich konnten die Untertanen ihre Landesherren verklagen

Die Aufgabe der mittelalterlichen Kaiser war der Schutz der Kirche, und so ergab sich eine Doppelung der Funktion, die an die heutige europäische Doppelstaatsbürgerschaft erinnert: Der hochmittelalterliche Kaiser wurde in Deutschland zum König gewählt, aber erst in Rom zum Kaiser gekrönt. Selbst in der Neuzeit, als Königswahl und Kaiserkrönung langst gemeinsam in Frankfurt am Main stattfanden, war der Kaiser kein rein deutscher Herrscher, sondern der ranghöchste Monarch Europas, der einzige vor Napoleon, der Könige machen konnte.

Dabei war er mächtig nur zu Hause, in der eigenen Landesherrschaft – im weiten Raum des Heiligen Römischen Reichs, das sich von Burgund und der Toskana bis Pommern erstreckte, dagegen nur ein Symbol der Einheit. Doch war er der oberste Garant des Rechts in einem System, in dem die Untertanen vor einem kaiserlichen Gerichtshof gegen ihre Landesherren Klage einreichen konnten – einzigartig in Europa. Spätere Staatsrechtler nannten das Heilige Römische Reich deutscher Nation daher ein unlogisches „Monstrum“, ähnlich wie heute der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger vom „sanften Monster Brüssel“ spricht. Immerhin, auch heute können Bürger Europas gegen ihre Staaten einen europäischen Gerichtshof anrufen.

Die Kirche blieb für Jahrhunderte die straffste und größte europäische Organisation, in der nationale Herkunft zwar nicht bedeutungslos war, aber immer wieder überspielt werden konnte. In ihren hochmittelalterlichen Konzilien versammelten die Päpste Bischöfe und Äbte aus der ganzen Christenheit um sich, um gemeinsame Regeln wie die obligatorische Beichte für alle Gläubigen zu erlassen. Auch sicherte sich der Papst seine Unabhängigkeit beim Aufbau der kirchlichen Hierarchien, indem er den Einfluss der örtlichen Herrscher auf die Ernennung von Bischöfen zurückdrängte. Geldströme aus ganz Europa flossen nach Rom, unterstützt vom bargeldlosen Zahlungsverkehr, den die florentinischen Bankhäuser abwickelten, die Filialen in vielen Städten nördlich der Alpen unterhielten. Lobbyisten aus allen Ländern drängelten sich an der Kurie so wie heute in Brüssel.

Das Papsttum initiierte auch die ersten gemeineuropäischen Kriegsunternehmen, die Kreuzzüge, die als bewaffnete Wallfahrten nach Jerusalem das Heilige Grab aus den Händen der Muslime befreien sollten. Im 12. Jahrhundert kämpften hier Könige und Fürsten aus Frankreich, England und Deutschland nebeneinander, und gemeinsam war ihnen auch bald eine Ritterkultur, die sich mit denselben Geschichten unterhielt. Den Parzival gab es erst auf Französisch und dann auf Deutsch. Tempelritter aus ganz Europa kolonisierten die Gegend südlich von Berlin, wo es immer noch einen Stadtteil „Tempelhof“ gibt, und im sogenannten Deutschen Ritterorden, der die Preußen an der Ostsee unterwarf, fochten keineswegs nur deutsche Krieger.

Als das Papsttum für eine Generation zwischen Rom und Avignon geteilt war, musste ein Konzil die Einheit der Kirche wiederherstellen, dem der deutsche Kaiser Schutz gab. Das vor sechshundert Jahren 1414 in Konstanz eröffnete Konzil kann man als das erste europäische Parlament bezeichnen: Um das Übergewicht italienischer Kardinale auszugleichen, wurde hier zum ersten Mal nach „Nationen“ abgestimmt, sodass Engländer, Franzosen, Deutsche, zu denen später die Spanier kamen, jeweils nur eine Stimme hatten. Noch war der Nationenbegriff damals nicht „national“, er bezeichnete die geografische Herkunft. In Konstanz vertrat die deutsche Stimme auch die baltischen und slawischen Kirchenprovinzen, ohne dass dies jemanden gestört hätte.

Dieses alte Europa entwickelte eine erstaunliche Flexibilität in seinen überregionalen Verbindungen. Italienische Kaufleute konnten in Brügge ebenso nach ihrem eigenen Recht leben wie ihre deutschen Kollegen in Venedig. Ausländische Studenten hatten eigene Korporationen in Paris und Bologna, und man fragt sich, ob der „Bologna-Prozess“ unserer Tage sich nicht besser daran erinnert hätte. Aus dem Milieu der hochmittelalterlichen Universität kam auch der erste Versuch, den Zusammenhang Europas als Verbindung unterschiedlicher Teile zu konzipieren. Der Kölner Kanoniker Alexander von Roes entwarf um 1280 eine europäische Geschäftsverteilung zwischen den Hauptnationen der Christenheit: Die Italiener haben demnach das Papsttum, die Herrschaft über die Kirche; die Deutschen das Imperium, den Schutz der Kirche; und die Franzosen mit der Universität Paris das Studium, die scholastische Doktrin der Kirche.

Nicht zuletzt die spätmittelalterlichen Konzilien der Kirche förderten eine weitere europäische Gemeinschaft, die Internationale der humanistischen Gelehrten. In den Sitzungspausen in Konstanz stöberten italienische Kleriker in den Klöstern an Rhein und Bodensee nach antiken Manuskripten. Petrarca und Cola di Rienzo wurden in deutschen Kanzleien eifrig studiert, um den Stil zu verbessern, mit Wirkungen auf die deutsche Syntax bis heute. Der Buchdruck schuf am Ende des 15. Jahrhunderts eine internationale Philologie, die dafür sorgte, dass überall in Europa dieselben Texte zitiert werden konnten.

Diese humanistische Öffentlichkeit war auch die Voraussetzung für die erste große Teilung Europas in der Kirchenspaltung. Fortan zeigte sich: Europa ist nicht nur katholisch und hat nicht den einen Glauben, es ist auch protestantisch, es hat das Prinzip der Sezession entdeckt und damit seine eigentliche Freiheit. Da sich in Europa viele Länder und Herrschaften befestigten, konnte kein Gedanke mehr unterdrückt werden. Luther wurde gerettet von einem sächsischen Kurfürsten. Was in Paris nicht publiziert werden durfte, erschien eben in Holland. Voltaire wurde durch die Verbannung nach England ein europäischer Schriftsteller. Europa wäre unvorstellbar ohne die eigensinnige Schweiz, die Fluchtburg der Aufklärung und vieler Emigrationen.

Erst in der Neuzeit entwickelte sich so die eigentümliche europäische Struktur, der Zusammenhang von Verschiedenheiten, konfessionell, sprachlich und kulturell. Die Volkssprachen wurden literarisch wie das Lateinische, und so mussten die Europäer immer polyglotter werden. Dieser Prozess verlief parallel zum Aufstieg der großen und kleinen Monarchien, die sich zu einer konfliktreichen europäischen Staatengesellschaft verbanden, in der potenziell jeder mit jedem Krieg führen, aber auch Bündnisse schließen konnte.

 

Die Habsburger regierten in Madrid und Brüssel, Wien, Florenz, Prag und Budapest

Auch dabei verliefen die Linien über alle Grenzen hinweg. Deutsche Kurfürsten wurden Könige in England und in Polen. Der schwedische König besaß Provinzen im deutschen Reich. Der preußische König war Kurfürst von Brandenburg und Lehnsmann des Königs von Polen. Seit dem späten Mittelalter entwickelte sich durch Heiraten quer über den Kontinent die europäische Familie der Dynastien, die im Fall der Habsburger von Madrid und Brüssel bis Wien, Florenz, Prag und Budapest reichte. Dagegen arbeiteten die Bourbonen, indem sie sich mit italienischen, bayerischen, spanischen und polnischen Fürstenhäusern verbanden. Noch Napoleon kopierte dieses System, indem er eine habsburgische Erzherzogin heiratete, um eine imperiale Superdynastie zu begründen.

Diese europäische Staatengesellschaft bildete gemeinsame diplomatische Umgangsformen aus – meist in französischer Sprache – und räsonierte über ein Völkerrecht, das in erste Entwürfe eines europäischen Friedens mündete. Als Kant über den Ewigen Frieden nachdachte, lauschten deutsche Reisende längst begeistert den Reden der Pariser Nationalversammlung, die für ein paar Jahre eine Art europäisches Parlament wurde.

Dass Europa bei allen Konflikten eine Einheit sei, war nicht nur Theorie. In den großen Friedensschlüssen, vor allen dem Westfälischen Frieden von 1648 und dann auf dem Wiener Kongress 1815, übernahmen die Hauptmächte Verantwortung für den gesamten Kontinent. In beiden Vertragswerken wurde die Situation von Deutschland, der unruhigen, zerrissenen Mitte Europas, von nichtdeutschen Mächten garantiert, wie es erst wieder im Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 gelang.

Wer die Jahrhunderte vom römischen Bürgerrecht bis zu den Verträgen von Lissabon überfliegt, erkennt, dass der Nationalstaat weder das erste noch das letzte Wort der europäischen Geschichte ist. In seiner reinen Form hat es ihn sogar nur eine bemerkenswert kurze Zeit gegeben, von der Französischen Revolution bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, aber selbst in dieser kurzen Zeit keineswegs überall und unumschränkt. Erst 1870 hatte er nach der Einigung von Italien und Deutschland die Mitte Europas erreicht, erst 1919 gelangte er im Versailler Frieden bis an die russische und türkische Grenze. Aus Russland wurde sogar erst 1991 annähernd ein Nationalstaat, zum selben Zeitpunkt, als in Jugoslawien ein kleiner Vielvölkerstaat zerfiel. Ob das westeuropäische Modell des Nationalstaats für andere Regionen und Weltteile überhaupt taugt, kann in einer vergleichenden Betrachtung angezweifelt werden.

Wer über die Kompliziertheit der Europäischen Union klagt, kennt die Geschichte nicht. Die Metamorphosen des Kontinents lehren Phantasie für die vielen Möglichkeiten von Kooperation und Autonomie. Und sie zeigen: Die scheinbar einfachen Lösungen waren eigentlich immer die schlechtesten.

Aus: Süddeutsche Zeitung vom 8.5.2014, S. 13.


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