Miteinander reden - Miteinander lernen

K wie Kirche

Von A bis Z. Wegweisende Texte 13


Kirche

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

schon von Anfang an war die christliche Kirche kein statisches Gebilde, sondern immer in Bewegung und Veränderung begriffen. Als eine lebendige Gemeinschaft von recht unterschiedlichen Menschen kann dies auch gar nicht anders sein. Anderenfalls würde Erschlaffen und Versteinerung drohen.

Wer den Artikel von Lutz Mohaupt (geb. 1942), von 1980 bis 2005 Hauptpastor an der St.-Jacobi-Kirche in Hamburg, liest, wird überrascht sein, dass bereits vor fast 30 Jahren Ideen zur Reform der Kirche entwickelt worden sind, die in unseren Tagen immer noch oder erneut diskutiert werden.

Ich möchte damit keineswegs behaupten, dass ich Mohaupts Vorschläge durchweg für überzeugend halte. Was mich aber beeindruckt, ist dies, dass er schon damals Entwicklungen innerhalb der evangelischen Kirche hellsichtig analysiert und entsprechende Konsequenzen verlangt hat.

Es lohnt sich also durchaus, sich auf die Argumentation Mohaupts einzulassen und darüber nachzudenken, wie es gelingen kann, dass Kirche als eine Gemeinschaft derer erfahren wird, die sich den existenziellen Fragen des menschlichen Lebens stellt und im Licht des Evangeliums nach tragfähigen Antworten sucht. Dabei dürfte es wohl nicht nur um Modernisierung gehen, sondern vor allem um das Erlangen von Glaubwürdigkeit, um das redliche Bemühen, dafür einzustehen, was wir selbst als wahr und verlässlich erkannt und erfahren haben.

Es grüßt Sie freundlich
Ihr Werner Zager

 

Kirche im Wettbewerb

Hamburger Vorschläge sorgen für Diskussion

Für eine umfassende Modernisierung der Volkskirche plädiert Dr. Lutz Mohaupt. Die Zeit des Parochialprinzips gehe zu Ende, nötig würden Schwerpunktgemeinden mit verschiedenen Profilierungen. Mohaupt resümiert in dem folgenden Beitrag die Vorschläge, die die Hamburger Hauptpastoren in jüngster Zeit gemacht haben.

Von Lutz Mohaupt

Die Hamburger Hauptpastoren vertreten die These: Keine Zukunft der Volkskirche ohne grundlegende Modernisierung ihrer äußeren Strukturen. Dabei geht es nicht um eine Glaubensfrage. Die Kirche Jesu Christi als solche werde bekanntlich nicht einmal die Pforten der Hölle zum Verschwinden bringen. Es geht vielmehr um die nüchterne kirchenpolitische Überlegung: Welche modernisierenden Anpassungsleistungen werden vom gegenwärtigen System volkskirchlicher Großorganisationen erbracht werden müssen, damit diese auch in Zukunft noch ein gesellschaftlich relevanter Faktor sein können? Das meint etwas anderes als Anpassertum an den Zeitgeist. Die Volkskirche muss sich gerade dann erhebliche Reformbemühungen selber abverlangen, wenn sie zukünftig ihre Kenntlichkeit als Kirche verstärkt herausarbeiten will.

Deshalb haben die Hauptpastoren einige Stichworte genannt, die viele aufgeregt haben: Reformierung des Kirchensteuersystems in Richtung auf eine bessere Durchschaubarkeit; erhöhte Mitbestimmung über die Verwendung der Mittel seitens des Steuerzahlers; Stärkung der finanziellen Autonomie der Einzelgemeinde; Aufbau einer gemeindlichen Kultur des „fundraising“ und deren Abstützung durch Vereine, Stiftungen und Gesellschaften bürgerlichen Rechts; Leistungsprinzip für Pastoren und Erarbeitung eines objektiven Kriterienkatalogs für „gute“, für „erfolgreiche“ Pastorenarbeit; Abbau von kirchlichen Überkapazitäten auf der Basis innerkirchlicher Prioritätenlisten; Mitgliederpflege durch besondere Vergünstigungen für Kirchenmitglieder; Ausbau des Instrumentes einer modernen Image-Werbung. Das Echo war gespalten. Die Öffentlichkeit bekundete überwiegend Zustimmung, zum Teil enthusiastischen Beifall, binnenkirchlich dominierten zunächst heftige, teils wütende Proteste. Erst nach und nach wuchs auch hier die Zahl derer, die für eine Runde sorgfältigen Nachdenkens plädierten. Worum geht es?

Die Hauptpastoren erleben aus der Sicht ihrer City-Kirchen in Hamburg eine fortschreitende gesellschaftliche Delegitimierung zentraler Bauelemente des nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen volkskirchlichen Gefüges, angefangen vom Kirchensteuereinzug durch die Finanzämter bis hin zum Parochialprinzip, dem flächendeckend über Deutschland ausgebreitet gedachten Netz von Kirchengemeinden mit lokaler Zuständigkeit. Dieses Gefüge oder jedenfalls wesentliche Teile davon werden zunehmend zu einer Last für die Volkskirche selber.

Erstes Beispiel: Der beamtenähnliche Status verhindert den ernsthaften Versuch, bei ihnen das Leistungsprinzip zur Geltung zu bringen. Die Kirche verzichtet damit auf eines der wirksamsten Instrumente kirchenleitenden Handelns, denn es ist äußerlich gesehen im Prinzip vollkommen egal, ob ein Pastor seine Gottesdienstbesucherzahlen steigert oder nicht, ob er Hunderte von Hausbesuchen im Jahr macht oder keinen einzigen, ob er seine Amtshandlungen schludrig oder sorgfältig vorbereitet und ob er bereit ist, sich an sozialen Brennpunkten voll in die Schanze zu schlagen oder ein Berufsleben in Beschaulichkeit vorzieht.

Was durch die Einführung des Leistungsprinzips in den Pastorenberuf nicht bewirkt werden darf, liegt auf der Hand: ein Verlust der unbedingt bewahrenswerten Unabhängigkeit des Pastors in der Freiheit der Verkündigung des Evangeliums. Übertriebene Sorgen sind hier aber nicht am Platze. Auch wo im sonstigen Berufsleben der Lebensunterhalt nach dem Leistungsprinzip erarbeitet wird, gibt es die stromlinienförmigen Anpasser und die souveränen Unabhängigen. Auch in anderen Ländern, wo man keinen Beamtenstatus deutscher Art kennt, kriechen die Pastoren nicht so einfach vor ihren Gemeinden oder auch vor großen Geldgebern zu Kreuze. Wer das behauptet, müsste zum Beispiel erst einmal eine nennenswerte Anzahl von amerikanischen Pastor/innen vorweisen, denen er das ins Gesicht zu sagen wagte.

Widerstand wäre andererseits fällig gegen denkbare Tendenzen, die Professionalisierung der Religion in Gestalt des Berufsstandes der Pastoren überhaupt in Frage zu stellen. Wenn die Kirche weiterhin qualifizierte junge Leute als Pastorennachwuchs gewinnen will, muss sie festhalten an einem Berufsbild, das zwar nicht großartige Karrierechancen verspricht und schon gar nicht goldene Berge, das aber durchaus Leistung fordert und in Zukunft Leistung stärker fördert und das gerade deshalb für junge Menschen erstrebenswert ist, und das heißt, die Kirche muss festhalten an einem ordentlichen Hochschulstudium der Theologie, einer soliden Ausbildung zum Erwerb kommunikativer Kompetenz bei der Predigtaufgabe und in der Seelsorge, und sie muss festhalten daran, dass dieser Beruf auch eine Familie zu ernähren vermag.

Zweites Beispiel: Dass Kirchenmitgliedschaft verstärkt auf Entscheidung beruht, ist vielfach beschrieben worden. Die Volkskirche muss darum in einer bisher so nicht von ihr geforderten Weise selber den Sinn einer Zugehörigkeit zu ihr als Institution plausibel machen. Sie wird das nicht vollständig anders tun können als andere Institutionen. Wir brauchen eine analoge, wenn auch spezifisch kirchliche Anwendung jener Mittel, die auch sonst in dieser modernen Gesellschaft eingesetzt werden, um Menschen zu interessieren, zu gewinnen und zu halten: zum Beispiel eben Image-Werbung, Förderung von so etwas wie „Corporate identity“, Mitgliederpflege. In diesem Zusammenhang ist der Begriff „Church card“ zu sehen. Ein Vermerk auf der Lohnsteuerkarte wird für den, der nicht in den Gemeinden zu Hause ist und selten in den Gottesdienst kommt, je länger desto weniger ausreichen, um Zugehörigkeit zu symbolisieren und erlebbare Folgewirkungen daran zu knüpfen.

Nun wären Vergünstigungen für Kirchenmitglieder beim Eintritt in Kirchenkonzerte, bei der Vergabe von Kindergartenplätzen oder bei den Gebühren für kirchliche Monopolfriedhöfe natürlich nichts weiter als eine Art Beiwerk. Was dahinterstecken würde und was vor allem in dieser Kirche entstehen muss, ist ein Bewusstsein dafür, dass jedes Kirchenmitglied umworben und immer wieder neu gewonnen werden will. Bekommt jeder Mensch, der eine unserer Kirchen betritt, das Gefühl, lange erwartet zu sein? Empfindet er erst einmal Akzeptanz, womöglich sogar Willkommensein, wenn er seinen Fuß vielleicht nach langer Zeit über die Schwelle unserer Kirchentür setzt? Hier stehen für die Volkskirche Modernisierungsleistungen allergrößten Ausmaßes an.

Drittes Beispiel: Wir befinden uns in einem tiefgreifenden Wandel der Formen gelebter Religion in der modernen Gesellschaft. Die Soziologen haben das Stichwort „Patchwork-Religiosität“ erfunden. Gemeint ist, dass viele Leute nicht mehr ein geschlossenes theologisches Deutungssystem oder irgendeinen vorgeprägten Kanon religiösen Verhaltens für sich übernehmen. Sie setzen sich ihre Glaubenswelt und ihre Lebensform selber zusammen. Diese tiefgreifende Individualisierung der Lebensformen und Deutungsangebote ist etwas total anderes als ein Rückgang von Religion, aber sie bedeutet einen Rückgang der institutionellen Bedingung von Religion. Religion spricht sich heute sehr verschieden aus: in einem Boom von Astrologie und Kartenlegen, esoterischen Lehren und Praktiken aller Art, den verschiedensten religiösen Gemeinschaften und Zirkeln.

Vielen Kirchenleuten erscheint dieser Wandel eher als eine Bedrohung, jedenfalls als etwas, wogegen es sich vor allem abzugrenzen gilt. Bei einigem Nachdenken erweist sich dieses Phänomen jedoch als Ansatzpunkt für eine Modernisierung der Volkskirche. Sie wird auf die bunte Landschaft individualisierter Religion stärker als bisher eingehen müssen, oder sie wird marginalisiert. Gewiss: Sie hat ihr Sprüchlein zu sagen und ihr Liedchen zu singen. Aber sie braucht die Leute, die zuhören und mitmachen wollen. Sie kann nicht ihre herkömmlichen Standards einfach reproduzieren und, daran gemessen, dann die real gelebte Religiosität als defiziente Verfallsform brandmarken nach dem Motto: Wer nicht jeden Sonntag um 10 Uhr in der Kirche sitzt, gehört in Wahrheit nicht zu uns. Auch christliche Religion spricht sich eben heute sehr verschieden aus: im Anhören der Matthäuspassion oder im Einsatz für die Restaurierung einer alten Orgel, im Obertonsingen in einer gotischen Kathedrale oder in Meditationsandachten vor spätmittelalterlichen Altären.

Modernisierung der Volkskirche bedeutet in diesem Zusammenhang Pluralisierung und Elementarisierung der christlichen Glaubens- und Lebensformen.

Die Hamburger Hauptkirchen versuchen seit langem, nach diesem Prinzip zu handeln. Die Leute fahren auch 30 oder 40 Minuten zum Gottesdienst, wenn er ihnen nur etwas mitgibt; die einen haben erhöhte Ansprüche gegenüber der Predigt, sie fragen nach geistlicher Zeitdeutung; die anderen suchen den Raum für Meditation, Stille, mystische Versenkung. Die einen wollen aktuelle Themen bei Talkabenden und Forumsveranstaltungen diskutieren, die anderen Kunstausstellungen betrachten, die eine religiöse Tiefenschicht anrühren. Die Vielfalt der Formen kann gar nicht reich genug sein. Und da nicht jede Gemeinde und jede Kirche alles zugleich bieten kann, ergibt sich daraus die These: Wir stehen vor einem Ende des stilreinen Parochialprinzips, der flächendeckenden Versorgung der Bundesrepublik mit dem möglichst gleichen Typ von Kirche. Wir steuern auf eine Zeit der Schwerpunktgemeinden, der verschiedensten Profilierungen von Kirchen, der Vervielfältigung der kirchlichen Lebens- und Glaubensformen zu.

Die Zukunft der Volkskirche in Deutschland wird sich an ihrem Umgang mit diesen und ähnlichen Problemen entscheiden. Die Kirche als solche kann auch anders existieren. Sie kann in kleinen Zirkeln intimer Frömmigkeit inmitten einer glaubenslosen Welt oder in sozial und politisch engagierten Basisgemeinden, sogar in Katakomben und Foltergefängnissen überdauern. Sie würde auch das Ende der Volkskirche überleben. Als Kirche des Evangeliums hätte sie aber auch dann noch die fortdauernde Aufgabe, sich an die ganze Gesellschaft, die ganze Welt zu wenden. Dieser Auftrag der Kirche ist am umfassendsten in der Volkskirche realisiert, weshalb es sich lohnt, für sie zu kämpfen.

Aus: Evangelische Kommentare 4/1994, S. 220-222.

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