Miteinander reden - Miteinander lernen

T wie Theodizee

Von A bis Z. Wegweisende Texte 16

Theodizee

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

gerade in Zeiten erfahrenen Leids, von Krieg und Terror, von Krankheit und Naturkatastrophen oder auch einer Pandemie, wie wir sie seit mehr als einem Jahr erleben, stellen Menschen – nicht zuletzt glaubende Menschen – die Frage: Warum lässt Gott das zu? Wie vertragen sich die Übel in der Welt mit der Güte Gottes? Nichts anderes meint die sogenannte Theodizeefrage – das heißt die Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Bösen.

Dass es hier keine allseits befriedigende Antwort gibt, ja geben kann, macht der Beitrag von Klaus Harms deutlich. Dies sich einzugestehen, gebietet die Wahrhaftigkeit. Jedoch folgt daraus keineswegs zu resignieren und den Mut zu verlieren. Vielmehr heißt es für uns, neu über Gott und über unseren Auftrag in dieser Welt nachzudenken.

Wie aber können wir als Christinnen und Christen an unserem Glauben an den Gott der Liebe festhalten – angesichts all des Sinnwidrigen, das in der Welt geschieht?

Hilfreich scheint mir ein Gedanke des britischen Theologen John Macquarrie (1919–2007) zu sein, wenn er formulierte: Gott lässt sein („God is letting-be“). Mit anderen Worten: Gott bedingt alles, was ist, und ermöglicht alles, was sein kann. Aber er lässt dabei Freiheit. Gott gewährt der Natur und den Menschen einen Freiraum, sich zu entfalten.

Von uns Menschen kann die Freiheit verantwortlich zum Wohl unserer Mitwelt gebraucht werden, sie kann aber auch eigennützig und zur Zerstörung missbraucht werden. Dabei bleibt ein unaufgelöstes Rätsel, warum es so viel Dunkles und Schmerzliches in der Natur und im menschlichen Leben gibt.

Wenn wir auch nicht wissen, wie Gott in der Welt wirkt, so vertrauen wir als Christinnen und Christen darauf, dass sein Geist uns zum Guten leitet und uns nichts von der Liebe Gottes scheiden kann, wie sie uns in Wort und Verhalten Jesu begegnet.

Es grüßt Sie freundlich
Ihr Werner Zager

 Warum?

Die alte Frage nach dem Sinn findet auch heute keine wirkliche Antwort

Von Klaus Harms

Es ist die Klage Hiobs. Es ist der Schrei Jesu am Kreuz. Es ist die Verzweiflung unzähliger Menschen seit der Todesflut im Indischen Ozean. Und es ist der Weheruf der Opfer der Geschichte, der Massenmorde in Kriegen und Konzentrationslagern, durch Gewalt und Terror. Es ist das laute Stöhnen des Menschen unter schmerzvollem Leiden und Sterben in unheilbarer Krankheit. In der Ohnmacht verbindet sich die Suche nach dem Sinn allen Leidens und Sterbens mit der Frage nach einer göttlichen Gerechtigkeit.

Wurde in den Mythen der Griechen von der heimtückischen Unberechenbarkeit der Götter gesprochen, Schicksalsmächten, denen der Mensch rettungslos ausgeliefert ist, so wurde seit Beginn des Christentums bis zum Ende des Spätmittelalters nie daran gezweifelt, dass Gott über allem Geschick regiert, die Guten belohnt, die Bösen bestraft.

Diese Gewissheit endet mit der Aufklärung in der Neuzeit. Die Lehre von der Rechtfertigung des Menschen durch Gott wird umgedreht: Jetzt wird Gott für sein Handeln zur Rechtfertigung gezogen. Man nennt diesen Umbruch „Theodizee“: Rechtfertigung Gottes.

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), einer der großen europäischen Universalgelehrten, prägte das Wort. Seine Philosophie war in dürren Worten diese: Das Übel in der Welt beruht auf der Kreatürlichkeit der Geschöpfe, sonst wären sie göttlich. Leiden und Schmerzen können nützlich sein als Strafe zur Besserung. Und: Alle Sünden sind Folge der menschlichen Freiheit, andernfalls wäre die Erlösung grundlos.

Aber 1755 raffte das Erdbeben von Lissabon 30.000 Menschen dahin. Johann Wolfgang von Goethe fluchte Gott in seinem Gedicht „Prometheus“: „Ich Dich ehren – wofür?“ Der Franzose Voltaire spottete: „Wo ist euer Gott?“ Bis Immanuel Kant im fernen Königsberg Einhalt gebot: Gott vor den „Gerichtshof der Vernunft“ zerren zu wollen, sei eine „Anmaßung“ sonders gleichen. Die Vernunft verkenne ihre Schranken. Und der große Philosoph dachte dabei auch an die biblische Gestalt des Hiob.

Dass Menschen dennoch von solchen Fragen bewegt werden, ist auch für Kant legitim: „Der Mensch als ein vernünftiges Wesen ist berechtigt, … alle Behauptungen, alle Lehre, welche ihm Achtung auferlegt, zu prüfen, ehe er sich ihr unterwirft, damit diese Achtung aufrichtig und nicht erheuchelt sei.“ Hiobs Aufrichtigkeit und ungeheuchelte Demut bewundert Kant. Er ist auch beeindruckt davon, wie Hiob seinen Zweifel „unverhohlen gesteht“. Für Kant ist Hiob deshalb ein „redlicher Mann“, der unter dem „göttlichen Richterspruch“ jederzeit besser abschneidet als ein „religiöser Schmeichler“.

Die Schrecken des 20. Jahrhunderts, die Offenbarung grauenhafter Abgründe vor allem in den beiden Weltkriegen, verstärkte den Zweifel an einem gerechten Gott.

So konfrontiert beispielsweise der Nobelpreisträger Albert Camus (1916–1960) in seinem berühmten Roman über die deutsche Besatzung Frankreichs („Die Pest“) mit der Frage, ob die Leiden von Kindern, die sich schuldlos zu Tode quälen müssen, noch mit einem gütigen „allmächtigen“ Gott zu vereinbaren sind.

Wenn dem Menschen ernsthaft an einer Gerechtigkeit in der Welt angesichts himmelschreienden Elends gelegen sei, scheint es nur noch den Ausweg der gewaltlosen „Revolte“ zu geben. Vertröstungen auf ein besseres Jenseits gelten nicht. Der Existenzialist Camus sieht am Ende eine Antwort angesichts des qualvollen Sterbens: Bei den Menschen zu bleiben, ihnen zu helfen, selbst, wo alle Aussicht auf Erfolg vergeblich ist.

Camus, der „christliche Atheist“, wie man ihn auch nannte, führt damit heran an eine „Theodizee“ des schweigenden Handelns für alle Opfer dieser Welt. In aller Ausweglosigkeit bleibt uns in einer Welt schwindender religiöser Gewissheiten wohl nur „das Gebet und das Tun des Gerechten“, einem „Stehen bei Gott in seinem Leiden“. Kurz: Es bleibt das „Dasein-für-andere“, wie es Dietrich Bonhoeffer mit auf den Weg gab.

Die Welttragödie im Indischen Ozean war keine „Sintflut“. Sie kam nicht „von oben“. Es gab keine Schuldigen, keine Täter, wie am 11. September 2001. Und es war keine menschenverursachte Naturkatastrophe. Auch eine solche kommt nicht von Gott, denn er hat uns die Erde zur Verantwortung gegeben.

Wenn von einem „Sinn“ dieser „Apokalypse“ – was so viel wie „Enthüllung“ oder „Erhellung“ bedeutet – geredet werden kann, dann wäre es die Einsicht in die Begrenztheit unserer menschlichen Existenz angesichts der Macht der Natur. Und es wäre die Hinwendung zu einer „Globalisierung“ ohne den Allmachtswahn des Menschen im Streben nach bloßem Gewinn. Es wäre das Wahrnehmen einer interkulturell und weltweiten liebenden Verantwortung der Völker und Religionen für die Erde mit allen Wesen in ihrer Not und Bedürftigkeit.

Aus: Evangelische Sonntags-Zeitung vom 16.1.2005, S. 10.


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