Miteinander reden - Miteinander lernen

V wie Vaterunser

Von A bis Z. Wegweisende Texte 18

Vaterunser

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

das Vaterunser gehört sicher zu den Worten, die uns von Kindheit an vertraut sind und die uns durch unser ganzes Leben begleiten. Dabei mag es Zeiten geben, in denen uns das Vaterunser oder das Beten überhaupt schwerfällt. Und dann ist es gut, wenn wir uns Rechenschaft darüber geben, was wir eigentlich tun, wenn wir das Vaterunser sprechen, wenn wir uns an Gott im Gebet wenden.

Im Jahr 1985 hat der Theologe Gert Otto (1927–2005), Professor für Praktische Theologie und Universitätsprediger, im Mainzer Universitätsgottesdienst in der Christuskirche eine viel beachtete Predigtreihe zum Vaterunser gehalten, die dann auch in Buchform veröffentlicht wurde – und zwar unter dem Titel „Vater unser. Eine Auslegung für Menschen unserer Zeit“.

In seiner Einleitung zu dieser Predigtreihe, die unten folgt, macht Otto deutlich, wie wir heute beten können – ob mit eigenen Worten oder mit einem überlieferten Gebetstext. Dabei brauchen wir unseren Verstand nicht abzuschalten, nur um tradierte Vorstellungen vom Beten aufrechtzuerhalten. Kommt es doch beim Beten darauf an, dass wir das wahrhaftig zum Ausdruck bringen, was uns wirklich angeht. Gerade das Vaterunser kann uns zu einer wertvollen Hilfe werden, uns auf das Wesentliche im Leben zu konzentrieren.

Mit diesem Text von Gert Otto schließt unsere Reihe der wegweisenden Texte. Zugleich darf ich Sie herzlich einladen zu unserer Vortragsreihe über Luthers reformatorische Hauptschriften am 4., 11., 18. und 25. Juni 2021, jeweils um 19.30 Uhr, die als Zoom-Konferenz stattfindet. Dem jeweiligen Zoom-Meeting können Sie beitreten unter: https://us02web.zoom.us/j/81046861333?pwd=ZjNQS1U0WC9tS0RpcFpMMFF5MCtIdz09

Es grüßt Sie freundlich
Ihr Werner Zager

 

 

Das Vaterunser in der modernen Zeit

Vom Beten heute

Von Gert Otto

Das Vaterunser wird im Mittelpunkt aller Universitätsgottesdienste in diesem Jahr stehen. Jenes alte Gebet, von dem man gesagt hat, es umspanne die Welt – jenes Gebet, das wir vermutlich alle von Kindheit an kennen, wollen wir ein ganzes Jahr lang umkreisen, um es genauer zu verstehen und um es vielleicht auch bewusster sprechen zu lernen. Denn das ist ja die Gefahr großer alter Texte: die bewusstlose Wiederholung. Dieser Gefahr wollen wir wehren.

Dazu ist eine Vorüberlegung nötig, und um die allein geht es heute. Ich will die Richtung dieser Vorüberlegung mit ein paar Fragen umschreiben, die sicher vielen von uns geläufig sind:

– Hat denn Beten Sinn?
– Wie macht man das eigentlich: beten? Als Zeitgenossen?
– Und geschieht es auch außerhalb der Kirche?
– Beten nur die Frommen, oder beten die anderen auch, nur anders? Aber wie?

– Also: Was ist das – ein Gebet? Und ist es an die Sprache der Kirche, an die Sprache der Religion gebunden?

– Schließlich: Ist es nicht wichtiger, Notleidenden tatkräftig zu helfen, anstatt für sie zu beten?

Genug! Jeder könnte vermutlich die Fragenreihe fortsetzen. Wir wollen versuchen, im Gewirr der Fragen drei vorläufige Orientierungen zu finden.

1. Beten heißt: die Welt und das Leben aussprechen

Unser landläufiges Gebetsverständnis ist eindimensional, ist verkümmert. Wir denken vorrangig im Gegenüber von: Bitte des Menschen – Erhörung und Erfüllung durch Gott. Das geht, wie wir alle wissen, selten gut, und wenn es gutgeht, dann sind wir unsicher, ob’s denn wirklich der liebe Gott war, der unsere Bitte erfüllt hat, oder ob es dafür nicht viel einfachere Erklärungen gibt.

In diesem Verständnis ist die Fülle und Vielschichtigkeit dessen, was beten heißt, beschränkt auf eine einzige Weise. Es ist so, wie wenn man die vielfältige Schönheit eines Waldes dadurch erfahren will, dass man nur das Moos unter den Bäumen betrachtet. Was beten heißt, reicht unendlich viel weiter als unsere Bittgebete, noch dazu die arg egoistischen, uns weismachen wollen. Darum zum Bittgebet erst später noch etwas.

Einen neuen Zugang zum Gebet gewinnt, wer sich auf die reiche Sprache des Alten Testaments einlässt. Ein spezielles Wort für ‚beten‘ rangiert hier ganz am Rande – weil ‚beten‘ keine fromme Spezialität ist. Also steht im Vordergrund die große Fülle der Ausdrücke, mit denen man sagen will:
ein Mensch spricht, redet, schreit,
er klagt, lobt, fleht oder ruft.

Keine Sondersprache für das Gebet, weil der Mensch im Gebet sich selbst und sein ganzes Leben – eben nicht nur sein frommes Leben! – in Worte fasst, und zwar: mit Worten aus seinem Leben. Darum heißt es zum Beispiel in Psalm 5:

„Herr, höre meine Worte,
merke auf mein Reden!
Vernimm mein Schreien, mein König und Gott;
denn ich will zu dir beten.“

In der Sprache des Lebens also wird geredet – und wo das geschieht:
verbindlich und nicht beiläufig,
betroffen und nicht oberflächlich,
im Gewissen gebunden und nicht beliebig
– dies meint doch die Nennung des Namens Gottes –,
da haben wir es mit Gebeten zu tun.

So gewinnen wir Zugänge zu einem weiten, einem befreienden und einem befreiten Gebetsverständnis. Gebet ist kein frommer Krampf. Es ist aus aller Enge herauszuholen: aus der Enge religiöser Thematik und verkrusteter Sprache, erst recht aus der Enge einer primitiven Wunscherfüllungsmechanik.

Wer betet, breitet sein Leben aus,
indem er es ausspricht:
klagend oder lobend,
Hoffnungen träumend der eine,
schwarz vor Kummer der andere,
suchend,
mit den Wörtern tastend, klopfend,
wie mit dem Stock des Blinden …

Das kann laut oder leise geschehen, schreiend oder in wohlgesetzten Worten, es kann auch noch im Raum vor dem wohlformulierten Wort hängenbleiben, weil die Sprache in der Not nicht reicht – in der nachsinnenden Betrachtung. Die künstliche Unterscheidung zwischen Meditation und Gebet hilft da gar nichts. Sie ist die Erfindung derer, die meinen, ihre Form des Gebets verbindlich machen zu können. Reichtum und Vielfalt sind größer als solche Unterscheidungen.

Dorothee Sölle, die Schriftstellerin und Theologin, hat das einmal so formuliert: „Ich empfinde zum Beispiel den Gedanken, dass jeder Mensch beten kann, als eine ungeheure Betonung seiner Kreativität. Das Christentum setzt eigentlich voraus, dass alle Menschen Dichter sind, nämlich beten können. Das ist dasselbe wie: mit den Augen Gottes sehen. Wenn die Menschen mit der größten Wahrhaftigkeit, deren sie fähig sind, das zu sagen versuchen, was sie wirklich angeht, dann beten sie und sind zugleich Dichter.“

Nimmt man es so, dann ist das Gebet eine Struktur unseres Lebens. Beten hat mit der Frömmigkeit unseres Denkens, Sagens und Fühlens zu tun. Solche Frömmigkeit muss vielgestaltig sein wie das Leben. Es gibt keine für alle verbindliche Form oder Weise. Wir sollten uns gegenseitig Freiheit gewähren, innerhalb und außerhalb der Kirche. Weil jemand anders lebt und betet als ich, ist er nicht schlechter. Weil ich anders lebe und bete, bin ich nicht besser.

2. Beten heißt: aus der Wiederholung leben

Diesem weiten, offenen Verständnis des Gebets, orientiert am Alten Testament, orientiert an der Angewiesenheit des Menschen, sein Leben auszusprechen, weil er stumm sterben müsste, – diesem weiten Verständnis entspricht es, dass wir zugleich alle so etwas wie ‚Wegmarken‘ brauchen, Orientierungspfosten auf dem Weg ins offene Leben.

Solche ‚Wegmarken‘ sind für Christen die Ur-Kunden des Glaubens, wie wir sie in der Bibel vor uns haben. Sicher nicht ein Abschnitt wie der andere, aber ganz sicher mit besonderem Gewicht jene, die schon durch ihre große sprachliche Gestalt zum Gemeingut aller geworden sind – also, wenn es um das Gebet geht: das Vaterunser.

Warum brauchen wir solche ausformulierten Gebete als eine Art ‚Orientierung‘ für unsere Freiheit?

Einmal: In der Weite und Vielfalt unseres Betens brauchen wir zugleich Worte, die wir gemeinsam sprechen können. Das ist ein Stück notwendiger Konzentration in der Vielrederei unseres Lebens. Weite lebt von Konzentration. Konzentration ermöglicht neue Weite.

Zum anderen: Die Worte des Vaterunsers sind, wir werden es in diesem Jahr sehen, wie ein Dach, unter dem sich Menschen mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen und Erwartungen unterbringen können. Solche ‚Dächer‘ ermöglichen unser Zusammenleben. Oder anders: Dieses Gebet ist immer neu übersetzbar, in jede neue Zeit und Welt hinein. Es bleibt das Gebet unserer Väter, indem es unser eigenes werden kann.

Ohne den Rückgriff auf solche Ur-Kunden wären wir ärmer – werden wir armselig.

3. Beten und Handeln gehören zusammen

Eine Entgegensetzung möchte ich zum Schluss entschieden abweisen. Damit komme ich jetzt auch noch einmal auf die Automatik von Bittgebet und Erfüllung zurück.

Beten ersetzt niemals Handeln, sondern es begleitet Handeln. Diese Gewissensfrage: Was muss ich jetzt tun? ist eine Gebets-Frage. Aber das Gebet darf nie zum Verschiebebahnhof zwischen meiner Pflicht zum Handeln und Gottes überweltlichem Eingreifen verkommen. Wer so betet, wer dies erbittet, der lästert Gott. Das kann man leider nicht milder sagen.

Die für mich ergreifendste Darstellung der schrecklichen Spannung zwischen Beten und Handeln stammt von Bert Brecht in einer Szene seiner ‚Mutter Courage‘:

Da sind Menschen bedroht – durch Feinde. Und alle, die für die anderen die Bedrohung kommen sehen, sagen: Da kann man nix machen – da kann man nur noch beten. Und ein stummes Weib, tumb, halb blöd, der Sprache nicht mächtig, betet nicht. Sie trommelt wie eine Besessene, und das Trommeln warnt die Bedrohten.

Die Beter haben‘s nicht vermocht. Im Bild jener stummen Kattrin, die da trommelt, wird wahr, was der große mittelalterliche Prediger Bernhard von Clairvaux gesagt hat: „Gott höret deine Gebetsworte nicht, es sei denn, dass du sie zuvor selbst hörtest.“

Selber hören heißt hier: wahr machen, worum man bittet.

Ich schließe mit einem kurzen Gedicht eines Zeitgenossen. Es ist vieldeutig. Beziehen wir es in unseren Überlegungsgang ein, wird es vielleicht eindeutig:

„wir beten zuviel
wir beten zuwenig
zuviel und zuwenig
wir beten und beten

wann endlich wann
werden wir
beten“

(Rudolf Bohren)

Amen.

Aus: Wormser Zeitung, Februar 1985.

Hier finden Sie den Text als PDF zum Downloaden und Ausdrucken.