Evangelischer Bildungsimpuls 13
Ehrfurcht vor dem Leben
von Dorothea Zager und Werner Zager
„Wohnsitzloser bittet um eine kleine Unterstützung“ – mit schwarzer Kreide auf Wellpappe geschrieben, gehalten von klammen Händen mit nikotingelben Fingern, eine abgetragene Jacke, ein verlebtes Gesicht, müde und hoffnungslose Augen ... Wie viele Male haben wir solch einen Menschen schon gesehen? Wie viele Male sind wir vorübergegangen mit zielstrebigem Schritt? Und wie viele Male durchzogen uns die gleichen Gedanken, das gleiche Angerührtsein, die gleiche Hilflosigkeit: „Mit einem einzelnen Euro ist ihm doch sowieso nicht geholfen. Er würde ihn vielleicht sofort vertrinken. Arbeit brauchte er, eine Wohnung und ein Gespräch vielleicht ...“; und schon belegten andere Dinge unsere Gedanken mit Beschlag. Eine Tatsache aber bleibt: Gleich wie stark uns unsere Vernunft auch mahnt, beim Anblick einer in Not geratenen Kreatur nicht gleich sentimental zu werden, es ist ein spürbarer, wenn auch nur feiner Schmerz, der uns durchfährt, ob wir nun einen unseresgleichen leiden sehen wie diesen an den Existenzrand gedrängten Menschen oder auch nur ein kleines, scheinbar unbedeutendes Lebewesen: das nackte Vogelküken, dem seine zu früh erwachte Lust am Fliegen zum Verhängnis wurde, oder den Regenwurm, dem es nicht mehr gelungen ist, sich vom heißen Asphalt ins feuchte Gras zu retten.
Kinder bleiben meist noch stehen und fassen diesen Schmerz in Worte. Wir Erwachsene haben es uns anerzogen, den Schmerz des Mitleids in uns zu verschließen, ihn schweigend mit uns fortzunehmen und uns zu sagen: Das Leben ist nun einmal leider so – oft grausam und ungerecht.
Aber wenn es so wäre und wir würden genau dieses Gefühl ernst nehmen, wir würden das Mitleid, das Berührtsein von dem Leid des anderen und diesen Wunsch, wenn schon das Leid nicht verhindern, so doch wenigstens helfen zu können, nähren und stark werden lassen, wir würden die Anteilnahme am Geschick anderer Geschöpfe zu einer Maxime für unser eigenes tägliches Denken, Fühlen und Handeln machen, dann würde eine Kraft in unserer Gesellschaft und in unserer Welt aufbrechen, die sich wirksam gegen Resignation stemmte und sich für die Zukunft allen Lebens einsetzte.
Albert Schweitzer war einer der Menschen, der diese Regung der Menschlichkeit erkannte und sehr ernst nahm. Lange suchte er nach einem Namen für diese Kraft, für dieses Grundgefühl der Solidarität mit allem Lebenden und Leidenden, welche in uns wohnt. Im September des Jahres 1915 entdeckte Schweitzer bei einer Kahnfahrt auf dem Ogowe dieses Wort: „Ehrfurcht vor dem Leben“.
„Monatelang lebte ich in einer stetigen Aufregung dahin. Ohne jeglichen Erfolg ließ ich mein Denken in einer Konzentration, die auch durch die tägliche im Spital getane Arbeit nicht aufgehoben wurde, mit dem Wesen der Welt- und Lebensbejahung und der Ethik und mit dem, was sie miteinander gemeinsam haben, beschäftigt sein. Ich irrte in einem Dickicht umher, in dem kein Weg zu finden war. Ich stemmte mich gegen eine eiserne Tür, die nicht nachgab.
Alles, was ich aus der Philosophie über Ethik wusste, ließ mich im Stich. Die Vorstellungen vom Guten, die sie ausgebildet hatte, waren alle so unlebendig, so unelementar, so eng und so inhaltlos, dass sie mit Welt- und Lebensbejahung gar nicht zusammenzubringen waren. [...]
In diesem Zustande musste ich eine längere Fahrt auf dem Fluss unternehmen. [...] Als einzige Fahrgelegenheit fand ich einen gerade im Abfahren begriffenen kleinen Dampfer, der einen überladenen Schleppkahn mit sich führte. Außer mir waren nur Schwarze, unter ihnen Emil Ogouma, mein Freund aus Lambarene, an Bord. Da ich mich in der Eile nicht hatte genügend verproviantieren können, ließen sie mich aus ihrem Kochtopf mitessen.
Langsam krochen wir den Strom hinauf, uns mühsam zwischen den Sandbänken – es war trockene Jahreszeit – hindurchtastend. Geistesabwesend saß ich auf dem Deck des Schleppkahnes, um den elementaren und universellen Begriff des Ethischen ringend, den ich in keiner Philosophie gefunden hatte. [...] Am Abend des dritten Tages, als wir bei Sonnenuntergang gerade durch eine Herde Nilpferde hindurchfuhren, stand urplötzlich, von mir nicht geahnt und nicht gesucht das Wort ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ vor mir. Das eiserne Tor hatte nachgegeben; der Pfad im Dickicht war sichtbar geworden. Nun war ich zu der Idee vorgedrungen, in der Welt- und Lebensbejahung und Ethik miteinander enthalten sind! Nun wusste ich, dass die Weltanschauung ethischer Welt- und Lebensbejahung samt ihren Kulturidealen im Denken begründet ist.
Was ist Ehrfurcht vor dem Leben, und wie entsteht sie in uns?
[...] Die unmittelbarste Tatsache des Bewusstseins des Menschen lautet: ‚Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.‘ Als Wille zum Leben inmitten von Willen zum Leben erfasst sich der Mensch in jedem Augenblick, in dem er über sich selbst und über die Welt um ihn herum nachdenkt. [...]
Zugleich erlebt der denkend gewordene Mensch die Nötigung, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. Er erlebt das andere Leben in dem seinen. Als gut gilt ihm: Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Stand bringen; als böse: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten. Dies ist das denknotwendige, absolute Grundprinzip des Sittlichen. [...]
Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben begreift also alles in sich, was als Liebe, Hingebung, Mitleiden, Mitfreude und Mitstreben bezeichnet werden kann.“
Albert Schweitzer definiert Ethik also als „ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles, was lebt“. Wer Ehrfurcht vor jedem Geschöpf empfindet, kann nicht guten Gewissens sein eigenes Leben als wertvoller als das anderer Menschen halten. Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben duldet keine faulen Kompromisse: Sowohl der Tier- und Pflanzenwelt als auch dem ungeborenen menschlichen Leben müssen wir mit Ehrfurcht begegnen und dürfen sie nicht zugunsten scheinbar berechtigter Eigeninteressen opfern. Nicht nur der ältere Mensch, auch der kranke, der behinderte, der straffällig gewordene hat ein Recht auf die volle Achtung seiner Personwürde. Wer in unserem Land Hilfe und Unterstützung braucht, darf sich nicht an seiner Nationalität, Weltanschauung oder politischen Einstellung entscheiden, sondern allein an seiner Bedürftigkeit, das heißt an seinem Recht, menschenwürdig zu leben.
Wer also das ethische Prinzip der Ehrfurcht vor dem Leben, die beiden grundsätzlichen Bestimmungen von Gut und Böse ernst nimmt – wie Schweitzer sie formuliert:
„Gut ist, Leben erhalten, Leben fördern, dem Leben, das entwickelbar ist, zu voller Entwicklung zu verhelfen. Böse ist, Leben zerstören, dem Leben Leiden bringen, es in seiner Entwicklung hemmen.“ –,
wer erkannt hat, dass jedes andere Geschöpf Willen zum Leben in sich trägt, und „dass dieser andere Wille zum Leben, wie der meinige, Angst vor Vernichtung und Schmerz und Sehnsucht nach Freude und Glück hat“, spürt deutlich, dass diese Ehrfurchtsethik den einzelnen Menschen nicht mehr in Ruhe lässt, sondern ihn in die Pflicht nimmt, das Gute auch im ganz alltäglichen, persönlichen Leben zu verwirklichen.
Wohl bleibt dem Menschen die Entscheidung überlassen, „was er von seinem Leben für sich behält und was er an andere dahinzugeben hat“. Diese Möglichkeit aber, sich selbst für das Gute entscheiden zu können, schwächt den Anspruch nicht ab, sich für das Gute entscheiden zu müssen. Der absolut ergehende ethische Anspruch, das Gute zu verwirklichen, duldet keine Kasuistik, mit der man sich seiner unbedingten Verantwortung entziehen könnte. Im Bild gesprochen:
„Mit rastloser Lebendigkeit arbeitet die Ehrfurcht vor dem Leben an der Gesinnung, in die sie hineingekommen ist, und wirft sie in die Unruhe einer niemals und nirgends aufhörenden Verantwortlichkeit hinein. Wie die sich durch die Wasser wühlende Schraube das Schiff, so treibt die Ehrfurcht vor dem Leben den Menschen an.“
Allerdings erkennt auch Schweitzer, dass sich die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben nicht auf eine entsprechende in der Natur geltende Lebensordnung gründet:
„Nun bietet die Welt aber das grausige Schauspiel der Selbstentzweiung des Willens zum Leben. Ein Dasein setzt sich auf Kosten des anderen durch, eines zerstört das andere. Nur in dem denkenden Menschen ist der Wille zum Leben um anderen Willen zum Leben wissend geworden und will mit ihm solidarisch sein. Dies kann er aber nicht vollständig durchführen, weil auch der Mensch unter das rätselhafte und grausige Gesetz gestellt ist, auf Kosten anderen Lebens leben zu müssen und durch Vernichtung und Schädigung von Leben fort und fort schuldig zu werden. Als ethisches Wesen ringt er aber darum, dieser Notwendigkeit, wo er nur immer kann, zu entrinnen, und als einer, der wissend und barmherzig geworden ist, die Selbstentzweiung des Willens zum Leben aufzuheben, soweit der Einfluss seines Daseins reicht. Er dürstet danach, Humanität bewähren zu dürfen und Erlösung von Leiden bringen zu müssen.“
Die Radikalität der Ehrfurchtsethik zeigt sich darin, dass sie kategorisch die Unterscheidung zwischen wertvollem und wertlosem Leben ablehnt. Zwar räumt sie ein, dass zu medizinischen Zwecken und zur Ernährung des Menschen Tiere getötet werden dürfen – wenn auch nur im unbedingt notwendigen Maße und auf möglichst schmerzfreie Weise. Prinzipiell gilt es aber, „allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen“.
Für uns heute heißt das: Als Menschen, die sich um Humanität bemühen wollen inmitten eines oft rätselhaften und grausigen Lebenszyklus’, werden wir zu einem neuen von der Ehrfurcht vor dem Leben geprägten Lebensstil gelangen müssen: Wir werden darauf zu achten haben, weniger Fleisch zu verzehren, Tiere, die uns mit lebenswichtigen Nahrungsmitteln wie Milch, Eiern und Fleisch versorgen, artgerecht zu halten, artgerecht zu füttern und jederzeit human, d.h. als lebendige Geschöpfe Gottes und nicht als seelenlose Dinge zu behandeln – ja selbst dann noch, wenn wir sie töten müssen. Medizinische Versuche an Tieren werden wir nur dann noch verantworten können, wenn sie unabdingbar sind und in einer solchen Weise durchgeführt werden, dass den Tieren keine unnötige Qual bereitet wird.
So schließt sich auch hier wieder deutlich der Kreis zwischen Handeln und Glauben, Denken und Tun: Wer Gott als den Schöpfer dieser Welt bekennt, ihn preist beim Anblick all der Schönheit, der Geheimnisse und der Vielfalt der Schöpfung, wer sein eigenes Leben dankbar als von ihm geschenkt wahrnimmt, der wird unumgänglich auch die Verantwortung in sich spüren, die wir als menschliche Geschöpfe vor ihm tragen für unsere Mitgeschöpfe, ob Menschen, Pflanzen oder Tiere. Die Ehrfurcht vor dem Leben ist nicht nur die Quelle des ethischen Verhaltens, sondern zugleich auch die Quelle wahrer Frömmigkeit. In Anspielung auf Psalm 1,2 f. bringt Schweitzer dies zur Sprache:
„Ehrfurcht vor dem Leben ist Ergriffensein von dem unendlichen, unergründlichen, vorwärtstreibenden Willen, in dem alles Sein gegründet ist. Sie hebt uns über alle Erkenntnis der Dinge hinaus und lässt uns zum Baum werden, der vor der Dürre bewahrt wird, weil er an den Wasserbächen gepflanzt ist. Alle lebendige Frömmigkeit fließt aus Ehrfurcht vor dem Leben und der in ihr gegebenen Nötigung zu Idealen. In der Ehrfurcht vor dem Leben liegt die Frömmigkeit in ihrer elementarsten und tiefsten Fassung vor, in der sie sich noch nicht mit Welterklärung umgeben hat oder sich nicht mehr mit ihr umgibt, sondern Frömmigkeit ist, die ganz aus innerer Notwendigkeit kommt und darum nicht nach dem Ende fragt.“
Was Schweitzer als Philosoph mit „Ehrfurcht vor dem Leben“ meint, kann er als Christ und Theologe mit Jesu Doppelgebot der Liebe ausdrücken, wobei er allerdings die Nächstenliebe auf die Kreatur insgesamt ausdehnt:
„Worauf es heute in der ganzen Welt ankommt, ist, dass wir alle erkennen, dass Gott die Liebe ist und dass er von uns verlangt, dass wir in der Liebe wandeln sollen. Ohne die Liebe ist alle Erkenntnis und alle Frömmigkeit des wahren Wertes beraubt. Das wahre Wissen von Gott besteht darin, dass wir erleben, dass er den Geist der Liebe in unser Herz gelegt hat und dass die Seligkeit darin besteht, dass wir uns von diesem Geiste führen lassen und damit Gottes Kinder werden. Und nicht nur mit den Menschen, sondern mit allen Geschöpfen sollen wir in Gütigkeit und Mitleid verfahren.“
© Prof. Dr. Werner und Dorothea Zager
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