Evangelischer Bildungsimpuls 3
Jesu Kreuzestod
von Dorothea Zager und Werner Zager
„Ich suche nach einer einfachen, verständlichen Erklärung der Bedeutung des Todes Jesu. Schon als Knabe, wenn ich in der Passionszeit in der Kirche saß und der Pfarrer anfing zu predigen, fragte ich mich: Wird er es mir erklären können? Aber ich ging nie befriedigt nach Hause. Als ich anfing, Theologie zu studieren, dachte ich, die gelehrten Herren werden es dir erklären können. Aber als ich die Vorlesungen gehört und die wissenschaftlichen Auslegungen der Bibel durchstudiert hatte, musste ich mir sagen, dass ich um keinen Schritt weitergekommen war. Meine Freunde, seid ihr nicht in derselben Lage wie ich?“
Treffend schildert Albert Schweitzer die Hilflosigkeit so vieler, die an Karfreitag mit wachem Geist am Gottesdienst teilnehmen, die vertrauten Passionslieder singen, den Worten der Predigt folgen: Werde ich es heute endlich verstehen, was damals geschah? Warum musste Jesus von Nazareth, der so viel Gutes getan hatte, so viele Menschen geheilt und froh gemacht hatte, der so viele für Gottes Liebe gewonnen hatte, warum musste dieses Leben so enden? Man sagt, es war ein Opfer. Aber für wen? Für Gott? Braucht Gott denn ein Opfer? Er, der doch die Liebe, die Barmherzigkeit selbst ist? Gott opfert seinen Sohn, sich selbst? Eine Vielzahl von Deutungsmöglichkeiten für diesen Kreuzestod Jesu umgibt uns, und nicht selten spüren wir: Da passt so vieles nicht zusammen. Zurück bleibt immer wieder die Frage: Warum musste Jesus sterben? Werde ich es heute verstehen?
Dazu kommt noch dies: Die Vorstellung, dass vor rund 2000 Jahren ein Mensch zur Sühne für unsere Schuld am Kreuz gestorben sein soll, erscheint heute immer mehr Menschen fragwürdig. Kann ein Mensch für einen anderen – ja, für unzählige andere – die Schuld tragen und büßen? Muss ich nicht für mein eigenes Verhalten selbst geradestehen und die Verantwortung übernehmen?
Der Sühnetod
Eines ist sicher: Im Neuen Testament ist die Sühnetodvorstellung die vorrangige Deutungsmöglichkeit für den Kreuzestod Jesu, wenn auch nicht die einzige. Es stellt sich aber dabei die Frage: Hat Jesus seinen Tod wirklich als einen Opfertod für die Erlösung der ganzen Menschheit von ihrer Schuld verstanden?
Innerhalb der Evangelien gibt es zwei Worte, die die Sühnetodvorstellung beinhalten: zum einen das „Lösegeldwort“: „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, bedient zu werden, sondern zu dienen und sein Leben als Lösegeld für viele zu geben“, und zum anderen das „Kelchwort“ beim Abendmahl: „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut“. Jedoch können diese beiden Textstellen nicht auf Jesus selbst zurückgeführt werden, denn es besteht zur authentischen Jesusüberlieferung eine entscheidende Differenz: Hier wird nie Gottes Vergeben an Jesu Lebenshingabe als Voraussetzung gebunden.
Dies hat bereits Albert Schweitzer gesehen, wenn er schreibt:
„Auch wenn es ihm die Stellen vom leidenden Gottesknecht [im 53. Kapitel des Jesajabuchs] nahelegen, kann Jesus seinen Tod doch nicht als ein für Sündenvergebung erfordertes Opfer ansehen. Seine Vorstellung von dem ohne weiteres aus Gottes Barmherzigkeit kommenden Verzeihen lässt es nicht zu.“
Dabei beruft sich Schweitzer ausdrücklich auf das Vaterunser, indem er dazu ausführt:
„Die Sündenvergebung, um die Jesus die Gläubigen im Vaterunser bitten heißt, geht einzig von Gott aus. Sie hat keine andere Voraussetzung als seine Barmherzigkeit und dass die Menschen ihrerseits denen vergeben haben, die ihres Vergebens bedurften.“
Jesus eröffnete in seinen Mahlgemeinschaften und in seiner Verkündigung den direkten Zugang zu Gottes Verzeihen und Barmherzigkeit, dem der Mensch in seinem Verhalten zum Mitmenschen entsprechen soll.
Gottes Liebe auch ohne Sühnopfer
Das heißt: Es widerspricht nicht dem Evangelium Jesu, an eine Gottesliebe zu glauben, die eines sühnenden Opfers nicht bedarf. Lesen wir mit offenen Augen das Gleichnis vom verlorenen Sohn, wird uns deutlich, dass Gottes Liebe eine Liebe allein aus Gnade und ohne die Forderung eines sühnenden Opfers ist: Der heimkehrende Sohn wird vom Vater mit offenen Armen aufgenommen, ohne ein Wort des Vorwurfs, ohne Wiedergutmachungsforderung, ohne eine Sühneleistung.
Auch Albert Schweitzer ermutigte seine Straßburger Gemeinde von St. Nicolai, den Sündenvergebungsgedanken vom Kreuzestod Jesu zu lösen:
„Alljährlich tritt das Leiden des Herrn vor uns wie ein großes Rätsel. Fragen gar mannigfacher Art knüpfen sich daran. Über eine derselben, die sich jeder von euch schon gestellt und die ich in letzter Zeit mehrfach um mich vernahm, möchte ich heute mit euch nachdenken: Wie hängen Sündenvergebung und Tod Jesu zusammen? Ist es so, dass Jesus im Sterben Sündenvergebung beschafft hat für alle Zeiten und alle Menschen, dass es also ohne seinen Tod keine Sündenvergebung gibt?
Die Lehre, wie man sie gewöhnlich vorträgt, sagt hierzu: Ja. Sie geht davon aus, dass durch das Sündigen der Menschen das Gerechtigkeitsgefühl Gottes verletzt war; auf Grund seiner Heiligkeit konnte er nicht vergeben, wenn nicht eine Sühne geleistet wurde; diese konnte nur von einem sündlosen, heiligen Wesen beschafft werden; darum musste der Heiland Jesus Christus als unschuldiges Opfer sterben, und von dem Augenblick an konnte Gott wieder vergeben.
Das ist die Lehre, die sich z.T. schon beim Apostel Paulus findet, die dann die Kirchenväter weiter durchdenken, mit Hilfe derer unsere Reformatoren die Menschen befreit haben von der priesterlichen Bevormundung in Sachen der Vergebung der Sünden. Und dass so viele Menschen in dieser Lehre Trost gefunden haben, macht sie uns heilig, und doch ist keiner von euch, der nicht beim Nachdenken über Sündenvergebung auch das Unbefriedigende in dieser Lehre empfunden hätte.
Zunächst scheint uns die Anschauung von Gott, die ihr zugrunde liegt, nicht richtig. Gott soll etwas nicht können, das er möchte. Er will den Menschen Sünden vergeben und vermag es nicht, ehe er sich nicht in unserm Heiland ein Opfer dargebracht hat. Ist denn die Liebe Gottes nicht allmächtig? Seit wann ist denn Gott an etwas gebunden?
Dann aber kommt unser Herr Jesus selber und lehrt Sündenvergebung, ohne sie von seinem Tode am Kreuz abhängig zu machen. … Wenn ihr die Evangelien lest, so findet ihr, dass Jesus die Sündenvergebung von Gott als etwas, das mit Notwendigkeit aus dem Wesen der allmächtigen Liebe Gottes fließt, verkündigt.
Nur ganz nebensächlich möchte ich einige andere Bedenken erheben. Wieso soll denn durch den Tod eines Einzelnen Genugtuung geleistet sein für die Sünden aller kommenden Menschen, die noch nicht geboren sind?
Und dann, wenn die Sündenvergebung nur angeeignet wird im Glauben an den Tod Jesu, was ist dann geschehen mit den Menschen, die vor Jesus lebten? …
Und dann weiter: Die Heiden, die nach Jesus geboren wurden, aber von seinem Kreuzestode keine Kunde erhielten, sollen die keine Sündenvergebung erlangen, nur weil es ihnen unmöglich ist, etwas von der Predigt des Kreuzes zu erfahren und daran zu glauben?
Alle diese Erwägungen habt ihr schon selber gemacht und sie auch aussprechen hören. Aber vielleicht habt ihr bei euch gedacht, dass ein Pfarrer Bescheid darüber wisse und die Einwände widerlegen könne. Ich glaube, es gibt keinen, der es kann, und halte es darum für meine Pflicht, es ruhig zu gestehen!
Man kann auch nicht sagen, dass es sehr zu beklagen sei, dass uns in der Lehre von der Erlösung, wie man sie überliefert, nicht mehr alles befriedigt und wir weitere Fragen stellen: Das muss so sein. Wir sind eben auf dem Weg zum einfachen Evangelium Jesu zurück. Und Jesus selber hat uns gelehrt, dass der letzte Grund der Sündenvergebung die Liebe Gottes ist. …
Darum, weil es eben auch der Gedanke Jesu ist, dürfen wir es uns ruhig eingestehen, dass unser Glaube an Sündenvergebung nicht so sehr aus der Lehre über Jesu Tod fließt, sondern sich gründet auf den Glauben an die Liebe Gottes.“
Das Kreuz als Gotteskraft
Nun wird sich mancher, der solche Gedanken Albert Schweitzers liest und sie für sich persönlich auch gutheißen mag, die bange Frage stellen: Was aber ist dann überhaupt noch der Sinn des Todes Jesu? Wenn es kein Sühnetod war, was war dieser Tod dann?
Jesu Tod kann zum einen verstanden werden als die letzte Konsequenz seiner Botschaft von der Liebe Gottes. Jesus stand mit seinem eigenen Leben für die Wahrheit ein, dass Gott in seiner Liebe zu uns Menschen sich keine Grenzen setzen lässt: Gott liebt gerade die, von denen man sich abwendet; aber auch die, die meinen, aus sich selbst heraus leben zu können. Vor ihm hat keine Geltung, was Menschen voneinander trennt – seien es religiöse oder soziale Barrieren. Und diese Liebe Gottes, die Jesus lebte, brachte ihn ans Kreuz, an den Ort der Qual, des Ausgestoßen- und Verworfenseins, des dunklen Todesgeschicks. Dass die Menschen ihn zugrunde richteten, ist das Zeichen dafür, dass die lieblose Welt nicht bereit war, die unbedingte Liebe Gottes anzunehmen, so wie sie es bis auf den heutigen Tag nicht ist. Dass Jesus den Tod erduldete, ist ein Zeichen dafür, dass er sich, seiner Botschaft und seinem Gott treu blieb bis in den Tod.
Zum anderen aber ist das Kreuz Jesu ein Ruf an jeden Einzelnen, das Leiden und die Kreuze in dieser Welt nicht als unverhinderbar hinzunehmen, sondern dem tätig nachzufolgen, der in radikaler Hingabe an Gottes Liebeswillen nicht für sich selbst, sondern in letzter Konsequenz für andere gelebt hat. Es ist der Ruf Jesu selbst in uns, es ihm gleichzutun; es ist die Kraft Jesu in uns, diese Nachfolge wirklich und wahrhaftig in die Tat umzusetzen, eine Nachfolge, die unter der Verheißung steht: „Wer sein Leben verliert, der wird es finden.“ Denn wer sein Leben nicht krampfhaft festhält, sondern in Hingabe an andere verschenkt und ihnen daran teilgibt, der wird zum wahren Leben durchdringen, das selbst der Tod nicht auslöschen kann.
© Prof. Dr. Werner und Dorothea Zager
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