Miteinander reden - Miteinander lernen

Evangelischer Bildungsimpuls 14

Protestantische Freiheit

von Dorothea Zager und Werner Zager


Es war eine Sternstunde protestantischer Freiheit, als sich Martin Luther vor dem Reichstag zu Worms im Jahre 1521 weigerte, seine Schriften zu widerrufen, und dabei das folgende Bekenntnis sprach:

„Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift oder klare Vernunftgründe (ratione evidente) überwunden werde – denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, sintemal es am Tage ist, dass sie öfter geirrt und sich selber widersprochen haben – so bin ich durch die Stellen der Heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann ich und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist.“

Damit hatte Luther in Frage gestellt, dass dem Papst oder den Konzilien hinsichtlich des Glaubens eine letzte und in bestimmten Fällen zugleich unfehlbare Autorität zukomme. Und mit dieser Infragestellung löste er eine für die Kirchengeschichte des Abendlandes einzigartige Bewegung aus. Gerade darum hegte auch Albert Schweitzer für den Reformator eine ganz besondere Verehrung:

Und zu Luther habe ich eine große Liebe und eine große Dankbarkeit! [...] Luther hat die Reformation in Gang gebracht. Kein anderer zu seiner Zeit hätte es vermocht! Er hat die Frage ‘Was ist evangelisch?‘ wieder aufgeworfen und damit das Christentum auf den rechten Weg gewiesen! [...] Den Abend des 31. Oktober verbringe ich seit meiner Kindheit in der Stille mit Luther, ihm so dankend für das, was er dem Christentum gewesen ist. Und was tue ich in Theologie denn anders, als Antwort auf die Frage ‚Was ist evangelisch‘ suchen? Und wie liebe ich seine innige Übersetzung der Bibel! Und seine Lieder! – [...] was er uns gegeben hat, bedeutet eine Erlösung.“

 

Das Verdienst Martin Luthers

Martin Luther bestritt schlicht, dass menschliche Autoritäten – sei es ein Konzil oder der Papst – verbindliche Glaubensinhalte für alle Christen festlegen und vorschreiben dürfen. Alle kirchliche Lehre sollte sich nach Luther vielmehr allein an der Bibel ausrichten.

Natürlich war sich auch Luther bereits dessen bewusst, dass die Bibel nicht ein in sich stimmiges, widerspruchsfreies Buch ist. Er erkannte sehr wohl, dass die einzelnen Schriften der Bibel auch unterschiedliche, teils entgegengesetzte Botschaf­ten beinhalten. Luther wagte es sogar, eine Wertung der einzelnen biblischen Bücher vorzunehmen. „Was Christum treibet“ – das war das Kriterium, an dem sich die Schriften messen lassen mussten: Nur die Schriften in der Bibel erkannte er als wertvoll an, die den Menschen klar und verständlich die Botschaft von der unverdienten Liebe Gottes in Jesus Christus nahebringen. So erhielten einige von ihnen, wie der Hebräerbrief, der Jakobusbrief und die Johannesoffenbarung, ein negatives Urteil. Sehr deutlich kritisierte er in seiner „Vorrede auf das Neue Testament“ von 1522 am Hebräerbrief, dass dieser den Sündern nach der Taufe die Bußmöglichkeit versage, nannte den Jakobusbrief eine „recht stroherne Epistel“und über die Johannesoffenbarung urteilte er, „dass Christus drinnen weder gelehret noch erkannt“ werde. Dennoch erklärte Luther die Bibel zu der alleinigen Autorität, mit deren Hilfe man Gottes Wort hören, erkennen und weitergeben könne.

Dadurch wurde dem einzelnen Christen eine große Freiheit eröffnet: Er sollte die Bibel selbst lesen dürfen und zwar in seiner eigenen Sprache, genauso sollte er Gottesdienste feiern und Lieder singen dürfen, deren Sprache und Inhalt er verstehen konnte, und er sollte glauben dürfen, was er mit seinem eigenen Gewissen vereinbaren konnte.

So trifft es nach wie vor zu – trotz aller ökumenischen Öffnung vonseiten der ka­tholischen Kirche im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) –, wenn Schweitzer die Freiheit als Charakteristikum des Protestantismus im Gegenüber zum Katholizismus hervorhebt:

Der tiefstgehende Unterschied [zwischen Katholizismus und Protestantismus] ist der der Freiheit. Protestant sein heißt an dem Privileg festhalten, dass wir uns unsere religiösen Überzeugungen selber schaffen, indem wir uns in allen Kundgebungen des Religiösen versenken und uns in ihnen zurechtzufinden versuchen. Kirchen sind Vereinigungen von Gläubigen, historisch geworden, historisch berechtigt, von denen Leben ausgehen soll. Aber der Versuch einer Kirche, die religiöse Lehre in absolut verbindlicher Weise festzulegen, ist, wie die Geschichte gezeigt hat und das natürliche Empfinden sagt, nicht mit dem Wesen der Religion übereinstimmend. [...]

Ich selber bin den Reformatoren ständig in tiefster Weise dankbar, dass sie es uns, im Geiste Jesu und des ursprünglichen Evangeliums, erkämpft haben, in Freiheit religiös sein zu dürfen.“

 

Das Verdienst der Aufklärung

Trotz allen Mutes und aller Begeisterung für die „protestantische Freiheit“ machten die Reformatoren zunächst noch halt vor den altehrwürdigen Dogmen der Alten Kirche. An der Trinitätslehre (Dreieinigkeit Gottes: Vater, Sohn und Geist) und Zwei-Naturen-Lehre (göttliche und menschliche Natur Jesu Christi) hielten sie fest. Nicht so die Denker im deutschen Protestantismus während des Zeitalters der Aufklärung. Diese gingen weiter und sahen innerhalb aufgeschlossener Kreise des Protestantismus die Notwendigkeit, sich von jeglichem einengenden Dogmenglauben zu befreien. Sie begannen, die Bibel mit den sogenannten historischen Methoden zu untersuchen, inhaltliche Spannungen und Widersprüche beim Namen zu nennen und Gründe für solche Unstimmigkeiten zu finden. Sie erkannten die Zeitgebundenheit mancher religiösen Vorstellungen und deren Abhängigkeit auch von alten mittlerweile überholten Weltbildern. So begriff man erstmals die Bibel konsequent als ein geschichtliches Dokument und eben nicht mehr als vom heiligen Geist eingegebenes Gotteswort. Und man lehnte es ab, Glaubensinhalte zu bekennen, die man nicht wirklich innerlich mit Überzeugung bejahen konnte, selbst wenn sie in kirchlichen Dogmen festgelegt waren. Eine solche Befreiungstat kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Es ist notwendig, dass diejenigen, die sich nicht in die Dogmen hineinfinden können, wissen, dass sie deswegen nicht verurteilt sind zur Unfrömmigkeit. Dass der Prote­stantismus dahin kam, sich vom Dogma loslösen zu können, hat eine große Bedeutung für die Geistigkeit der Menschen.

Diese Verdienste der Reformation und später der Aufklärung haben auch für unsere eigene Glaubenspraxis heute eine große Tragweite; denn auch wir dürfen – manchmal gegen unsere eigene Ängstlichkeit, sich von altehrwürdiger Tradition zu lösen – zu neuer protestantischer Freiheit vordringen.

 

Freiheit heißt Wandlungen mitvollziehen

Als Christen brauchen wir nicht in zwei Welten zu leben: in einer religiösen Welt, bestimmt durch eine nicht hinterfragbare kirchliche Überlieferung, und in einer rational und ökonomisch ausgerichteten Welt, bestimmt durch moderne Technik und Weltanschauung, die dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt unterliegt und von politischen und wirtschaftlichen Veränderungen abhängig ist. Vielmehr gehört es zur Wahrhaftigkeit des Glaubens, sich neuen Erkenntnissen nicht zu verschließen, sondern diese aufzunehmen und verstehend zu durchdringen. So unterliegen auch Glaubensvorstellungen dem Wandel.

Bis ins 20. Jahrhundert hinein übernahm man – um ein Beispiel zu nennen – wie selbstverständlich die Wertung der Frau im Neuen Testament, dass ihr dem Mann gegenüber lediglich eine dienende Funktion zukomme und sie im Leben der Gemeinde vornehmlich zu schweigen habe. Heute ist es uns in der evangelischen Kirche kaum noch vorstellbar, dass einer Frau im Gottesdienst das Wort verboten würde, nur weil sie kein Mann ist. Frauen als Kirchenvorsteherinnen, Lektorinnen oder Pfarrerinnen gehören selbstverständlich zum Bild unserer Kirche dazu, und in vielen Gemeinden ist erst durch das Zusammenwirken von Mann und Frau im Pfarramt und in den leitenden Gremien unserer Kirche ein wirkliches menschliches Miteinanderleben und Miteinanderglauben gelungen, weil eins das andere ergänzt und vervollkommnet. Solchem Wandel wird sich möglicherweise noch manche uns vertraute kirchliche Struktur unterziehen müssen. Und protestantische Freiheit wird sich darin zeigen, ob wir fähig sind, unsere Scheu vor Veränderungen abzulegen und vertrauensvoll neue Wege zu gehen.

Ein solches weltoffenes und aufgeklärtes Christentum geriet im Zuge des Auf­kommens der sogenannten Dialektischen Theologie nach dem Ersten Weltkrieg innerhalb der Theologie in Misskredit. Man bemühte als „Autoritäten“ die Offenbarung oder das Wort Gottes, problematisierte die Einordnung des Christentums als Religion, betonte die Unabhängigkeit der Theologie gegenüber Kultur oder Philosophie und erklärte die Frage nach dem geschichtlichen Jesus für theologisch belanglos, da nur der biblische Christus den Glauben angehe. Es leuchtet ein, dass ein Theologe wie Albert Schweitzer dieser theologischen Entwicklung ablehnend gegenüberstand. In zwei Briefen drückte Schweitzer darüber hinaus seine Hoffnung auf eine Wiederkehr des freien bzw. freisinnigen Christentums aus:

„[...] es ist schade, dass das freisinnige Christentum, das so vielen Menschen einer früheren Generation Halt gab, von der Theologie verlassen ist. Aber es kommt wieder, verinnerlicht, geläutert, gefestigt.“

„Machen Sie sich keine Sorgen darüber, dass Ihre Amtsbrüder kein Verständnis für die Gedanken, die Ihnen etwas bedeuten, haben. Versuchen Sie nicht, sie ihnen aufzudrängen. Nur wer wach geworden ist und das wahre Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit hat, bedarf ihrer. [...] Mit der Zeit wird das Christentum einsehen, dass es der Auseinandersetzung mit dem historischen Jesus und seiner Verkündigung nicht entgehen kann und dass der Protestantismus das Suchen nach dem wahrhaft Evangelischen, das Luther ihm als Aufgabe stellte, nicht entgehen kann. Diese Evolution wird kommen, ganz von selbst. Man hat den freisinnigen Protestantismus totsagen wollen, und siehe, er lebt noch. Er ist eine Notwendigkeit für christliche Kultur ..., und er ist die Wahrheit ...“

© Prof. Dr. Werner und Dorothea Zager
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