Miteinander reden - Miteinander lernen


Evangelischer Bildungsimpuls 2

 Frömmigkeit und Spiritualität
von Dorothea Zager und Werner Zager

In neuerer Zeit ist anstatt von Frömmigkeit vielfach von Spiritualität die Rede. Spiritualität ist geradezu zu einem Modewort avanciert, das in allen möglichen Verbindungen vorkommt: Spiritualität und Gesundheit, Spiritualität und Management, Forschungsspiritualität, atheistische Spiritualität etc. Auch wenn mit „Spiritualität“ heutzutage oft Banalitäten mit der Aura des Heiligen umhüllt werden, hat dieses Wort durchaus auch einen guten Sinn.

Spiritualität verweist auf den Geist Gottes, den spiritus Dei, also den Heiligen Geist, der Menschen erfüllt und in ihnen wirksam wird. Der Begriff begegnet nicht nur in christlichen Glaubensbezügen, sondern überall da, wo nach einem gelingenden Leben gesucht wird. Und damit sind wir ganz dicht bei Albert Schweitzers Verständnis von Frömmigkeit.

Unter Frömmigkeit versteht nämlich Schweitzer Leben, das aus der Gottesliebe heraus lebt und diese Gottesliebe weitergibt, wo immer sich Gelegenheit dazu bietet. Die rechte Frömmigkeit besteht darin, dass wir „in dem Anderssein als die Welt und dem Dienen in Gottes Liebeswillen uns immer tiefer in das Sein in Gott hineinleben, Gott nahe kommen und Gott den Menschen nahe bringen“.

Immer wieder wurde Schweitzer vorgeworfen, er würde damit den christlichen Glauben ärmer machen und nur noch eine Liebesethik zurücklassen, die den Menschen in gesetzlicher und nicht mehr evangelisch-befreiender Weise zur Liebestat aufruft und dabei den Glauben an Gott für entbehrlich hält. Zwar ist diese Kritik nicht völlig aus der Luft gegriffen, jedoch trifft sie im Allgemeinen nicht zu. Dass Gott selbst der Urgrund aller Liebe in den Herzen der Menschen ist, darin besteht für Schweitzer die Basis jedes gläubigen Lebens und Wirkens in unserer Welt. Wie er darüber denkt, veranschaulicht eines seiner eindrücklichsten Bildworte:

Es gibt einen Ozean. Kaltes Wasser, unbewegt. In dem Ozean aber ist der Golfstrom, heißes Wasser, das vom Äquator zum Pole fließt. Fragen Sie alle Gelehrten, wie es physikalisch vorstellbar ist, dass zwischen den Wassern des Ozeans, wie zwischen zwei Ufern, ein Strom heißen Wassers fließt, bewegt in dem Unbewegten, heiß in dem Kalten. Sie können es nicht erklären. So ist der Gott der Liebe in dem Gott der Weltkräfte eins mit ihm und doch so ganz anders als er. Von diesem Strome lassen wir uns ergreifen und dahintragen.

Sich vom Strom der Liebe Gottes ergreifen und bewegen lassen – dies meint also die wahre Frömmigkeit. Solche Frömmigkeit beschränkt sich nicht auf einzelne Ausdrucksformen wie Gebet, Bibellese und Teilnahme am Gottesdienst. Nicht dass solche spezifische Frömmigkeitspraxis überflüssig wäre, sie ist vielmehr unverzichtbar als geistliche Kraftquelle. So erkennt Schweitzer den innerlichen Reichtum eines Menschen darin, dass er Gott im Gebet dankt, und Beten heißt für ihn „sein tägliches Dasein als Leben in Gott betrachten und seinen Willen suchen“. Darauf aber kommt es an, dass was wir aus dieser Kraftquelle an Bejahtsein, Geborgenheit, Vergebung und Gewissensschärfung erfahren, hineinwirken lassen auf unser Leben in Beruf, Gesellschaft, Familie und Freundeskreis. Nur so wird Frömmigkeit die unser Leben bestimmende und prägende Größe. Also eine im besten Sinne „ganzheitliche“ Frömmigkeit, eine Frömmigkeit mit Herz und Mund, in Wort und Tat.

Schweitzers einprägsames Bild von dem kalten Ozean und dem warmen Golfstrom spricht eine Erfahrung an, die uns immer wieder das Glauben an einen ausnahmslos liebenden Gott erschwert. Die Schöpfung selbst, die Natur lässt uns nicht ohne Weiteres den Gott der Liebe erkennen, der seine Geschöpfe liebt, schützt und am Leben erhält. Das Gegenteil ist oft der Fall: Beobachtet man das grausige Schauspiel, wie ein Rudel Raubtiere ein Zebra zur Strecke bringt und zerreißt; erlebt man bewusst, mit welcher Tücke ein Geschöpf das andere in tödliche Fallen lockt, um es zu fangen und aufzufressen – man schaue sich nur einmal mit offenen Augen das hilflose Gezappel einer Fliege im Spinnennetz an und das „herzlose“ Verarbeiten dieser Beute durch die Jägerin zu einer zweifellos wiederum lebensnotwendigen Mahlzeit –, da graut es einen vor diesem Naturgesetz des „Fressens und Gefressenwerdens“. Zugleich fürchten wir die Naturgewalten, die sich in Erdbeben, Überschwemmungskatastrophen und verheerenden Vulkanausbrüchen entladen – oder wie in diesen Tagen und Wochen in der Corona-Pandemie, die schon so viele Menschenleben gefordert hat. Einen Gott der Liebe und des unbedingten Schutzes allen Lebens kann man hier wahrlich nicht auf den ersten Blick erkennen. Er erscheint uns dunkel, unverständlich, lediglich als eine „zugleich sinnvoll Leben aufbauende und sinnlos Leben zerstörende Kraft“.

Den Gott der Liebe dagegen können wir nur erfahren in der Gestalt liebender Menschen. Insbesondere in der Gestalt Jesu von Nazareth. In seinen Worten, in seinem Verhalten, in seiner vorbildhaften Demut gegenüber Gott und seiner Grenzen überschreitenden Liebe zu den Menschen, wovon uns die Evangelien Zeugnis geben, erfahren wir das Wesen der Liebe Gottes: Gottes Barmherzigkeit verwandelt uns in barmherzige Menschen, sein Wille schenkt unserem Leben Orientierung und Sinn und ruft uns aus der Selbstgefälligkeit in die Verantwortung.

Schweitzer geht sogar noch einen Schritt weiter: Auch andere Menschen können uns den Gott der Liebe erfahrbar machen; dann nämlich, wenn sie in der Nachfolge Jesu Gottes Liebe weitergeben:

Aus Menschenherzen heraus scheint Gott in Menschenherzen hinein. An dir kennst du sie, die Stunden, wo ein Mensch [...] dich mit der Welt und dem Leben versöhnt hat und dir Freudigkeit ins Herz gab, von der du zehren konntest, als du vielleicht gerade geistig am Verschmachten warst. ... Und der, der dir es gab, ahnte vielleicht nichts davon, was für ein Sonnenschein dir aus seinem Anders-Sein als die Welt aufleuchtete. So sind wir alle füreinander [...] Dürstende nach Gott und haben den Beruf, einer dem andern in der Wüste dieser Welt mit einem Becher Wasser zu tränken [...].

So ist das, was das eigentlich Wertvolle am Christentum – ja an jeder Religion – ist, die Frömmigkeit, das „Sein in der Liebe“, das Zeugnis im Mitfühlen und Handeln:

Es gibt eine Frömmigkeit des Herzens, die dem denkenden Menschen offenbar wird und ihm Licht auf dem Lebensweg ist. Und alle historischen Religionen mit ihren Glaubenssätzen können dem Menschen nur etwas bieten, indem sie sich an seine Herzensfrömmigkeit wenden. Sie haben das grosse Verdienst, dass sie die Idee der Religion und der Frömmigkeit durch alles Weltgeschehen, das sie bedrohen kann, aufrecht erhalten. Der christlichen Kirche verdanken wir die Kenntnis Jesu und der Herzensfrömmigkeit, die er in die Welt gebracht hat.

Schon in diesen Worten klingt an, dass Schweitzer den Gedanken einer Frömmigkeit des Herzens nicht auf das Wesen des Christentums beschränkt. Manch einer, der sich einmal einen Überblick verschafft hat über die mannigfaltigen Veröffentlichungen Albert Schweitzers, wird verwundert festgestellt haben: Er hat ja sogar über indische Denker und über chinesische Philosophie Bücher geschrieben. Wie kommt er denn zu solchen Forschungsfeldern? Auch hier war es sein Interesse an dem wesentlichen Kern religiösen Lebens überhaupt, das Schweitzer veranlasste, sich so eingehend mit außereuropäischen Religionen und Philosophien zu befassen: Er suchte dabei herauszufinden, inwieweit sich auch in diesen Weltanschauungen „ethische Religion“ ausgebildet hat.

Und zweifellos ist in unserer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft solche Suche nach einer die Weltreligionen miteinander verbindenden ethisch bestimmten Frömmigkeit wichtiger geworden denn je. Gerade religiöse Intoleranz ist oftmals ein wesentlicher Faktor vieler blutiger Auseinandersetzungen zwischen Völkern und Volksgruppen rund um den Erdball. Um so notwendiger ist die Befriedung nicht nur ethnischer, sondern eben auch religiöser Gegensätze in unserer Zeit. Hans Küng schreibt sicherlich im Sinne Schweitzers, wenn er sagt: „Kein Überleben ohne Weltethos. Kein Weltfriede ohne Religionsfriede. Kein Religionsfriede ohne Religionsdialog.“

Das Wesen der Religion ist für Schweitzer

nicht ein Beschauen, nicht ein Begreifen, nicht ein Verstehen, sondern eine Tat des Menschenwillens, der sich aus der Endlichkeit gleichsam in die Unendlichkeit hinausdehnt und dort Gottes Willen sucht, um sich von ihm durchdringen zu lassen. Das ist das Wesen der Religion; alles andere ist nur die Form, die Lehre, der mannigfaltige Ausdruck dieses wahrhaftigen Erlebens der Religion.

Es versteht sich von selbst, dass diese Suche nach einem religiösen Frieden, nach einer Kraft, die uns über alle „äußeren Unterschiede hinweg eint, zunächst einmal natürlich innerhalb unserer eigenen, der christlichen Religion beginnen muss. Sowohl die großen christlichen Konfessionen als auch die verschiedenen Richtungen innerhalb der Konfessionen – da gibt es von bibelgläubig-erweckten Christen bis zu aufgeklärt-liberal Denkenden ein weites Spektrum unterschiedlichster Glaubens- und Frömmigkeitsformen –, sie alle sind aufgerufen, bei aller Unterschiedlichkeit ein Band der Einigkeit zu knüpfen, das dem Geist Christi entspricht.

Nicht die gemeinsame Anerkennung von Glaubenssätzen vermag uns als Christen miteinander zu verbinden, sondern die gelebte Frömmigkeit – die Erfahrung, von Gott angenommen und geliebt zu sein; das Bewusstsein, von ihm beauftragt zu sein, seinen Willen in unserer Welt zu verwirklichen; das Wissen, dass wir unser Leben vor ihm zu verantworten haben. In einem Brief schreibt Schweitzer:

In formulierten Glaubensanschauungen können die Menschen nicht übereinstimmen, aber in dem Geiste der Frömmigkeit sollen sie es ... Ich fühle mich in Frömmigkeits-Gemeinschaft mit so vielen Christen, die mir ganz ferne zu sein scheinen nach ihren dogmatischen Vorstellungen ... Auch Bach als Mystiker stand über den Confessionen ...

© Prof. Dr. Werner und Dorothea Zager
Abdruck oder Veröffentlichung nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Verfasser


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