Miteinander reden - Miteinander lernen

Evangelischer Bildungsimpuls 10 

Pfingsten

von Dorothea Zager und Werner Zager

 

Werden wir gefragt: „Wer ist Gott, der Schöpfer?“, fällt uns meist ohne längeres Zögern eine Antwort ein: Ein Blick in die mit grenzenloser Phantasie und Schönheit ausgestattete Schöpfung, ein Blick in die faszinierenden Weiten des Weltalls oder in die Wunderwelt des biologischen Mikrokosmos lassen uns staunend bekennen: „Dies alles hat Er geschaffen, Gott, der Urgrund allen Lebens.“

Werden wir gefragt: „Wer war Jesus von Nazareth? Was bedeutet er dir heute?“, selbst auf diese Frage könnten wir – vielleicht nach kurzem Bedenken – antworten und sagen: Er ist nicht nur eine historische Persönlichkeit mit großer Ausstrahlung und Wirksamkeit, sondern er durchdringt noch heute als unser lebendiger Herr unser Leben und Denken mit seiner Botschaft von der Gottesliebe und mit seinem Willen, durch die Liebe einer neuen, menschenfreundlichen Welt den Weg zu bereiten.

Was aber antworteten wir, wenn wir gefragt werden: „Wer oder was ist der heilige Geist?“ Es fällt uns schwer, eine Antwort zu finden, die sich nicht frommer Formeln bedient, sondern die glaubwürdig und erfahrbar in unserem alltäglichen Leben verwurzelt ist. Dabei sprechen wir in vielen Gemeinden Sonntag für Sonntag den dritten Glaubensartikel im Gottesdienst, wir feiern Jahr um Jahr das Pfingstfest und singen die Lieder vom Geist der Wahrheit, vom Geist der Liebe und der Kraft. Was aber hat es mit diesem Geist auf sich? Was kann er bewirken – auch heute noch bei uns?

Hören wir auf Albert Schweitzer in seiner Pfingstpredigt aus dem Jahr 1905:

Ich erinnere mich dessen, als wäre es gestern gewesen. Wir saßen in der Dorfschule am Pfingstsamstag; die Schwalben fuhren lustig vor den Fenstern herum, und der Lehrer erklärte das Lied ‚O Heilger Geist, kehr bei uns ein‘. Ich dachte nicht anders, als dass er müsse genau wissen, was der heilige Geist sei, wie die Erwachsenen ja alles wüssten, und sehnte mich nach der Zeit, wo auch ich groß wäre und wüsste, was der heilige Geist ist.

Seither, wenn ich nur die sonnendurchleuchtete Melodie jenes Liedes höre, kommt die nämliche Sehnsucht über mich. Denn das Leben hat die Erwartung des Knaben nicht erfüllt, und ich meine gar, dass in weihevollen Stunden der Kindheit der heilige Geist uns unmittelbar näher war als jetzt, nur dass wir nicht wussten, dass jenes ahnungsvolle, reine Sehnen der heilige Geist selbst war.“

Ein Brausen von oben

Wenn von Pfingsten die Rede ist, verbinden wir damit meist die Pfingstgeschichte, wie sie uns die Apostelgeschichte erzählt. Wir hören diese Geschichte häufig mit einer staunenden und etwas ungläubigen Distanz: Weder das „Brausen vom Himmel“, noch das „Feuer“, noch das Reden in „anderen Zungen“ ist uns recht vorstellbar, und nicht selten fragen wir uns, was an dieser Geschichte Dichtung und was daran Wahrheit ist. Was ist damals wirklich geschehen? Albert Schweitzer hat in einem Kirchenboten-Beitrag – „überschrieben mit der Mahnung aus 1. Thessalonicher 5,19: „Den Geist dämpfet nicht!“ – eine hilfreiche Antwort auf diese Frage gegeben:

Für die ersten Christen war das große Ereignis des Pfingstfestes das ‚Reden in Zungen‘, in das die Apostel plötzlich verfielen und das sich dann unter den Gläubigen fortsetzte. Was war dieses ‚Reden in Zungen‘ nach den ältesten Zeugnissen? Darüber klärt uns der Apostel Paulus mit aller Deutlichkeit im vierzehnten Kapitel des ersten Briefes an die Korinther auf, wo er die Gemeinde über die Stelle, die dieses Reden im Gottesdienste einnehmen soll, belehrt. Es war ein verzücktes, unartikuliertes Sprechen, bei dem die Zunge dem Willen des Sprechenden nicht mehr unterworfen war, sondern gewissermaßen von sich aus, ohne Zutun des betreffenden Menschen Laute hervorbrachte, die als Äußerungen des heiligen Geistes angesehen wurden. Möglich, dass an jenem Pfingstfest zu Jerusalem der oder jener Fremdling in solchen Lauten Laute seiner heimatlichen Sprache zu erkennen glaubte. Aber es war nicht, wie es der Verfasser der Apostelgeschichte schon aufzufassen geneigt ist, ein Reden in den Sprachen fremder Völker, wie ja auch sonst sein Bericht die ursprüngliche Begebenheit mit Wundern, die mit ihr ursprünglich nichts zu tun hatten – Feuerflammen vom Himmel – ausstattet. Paulus sagt ausdrücklich, dass es ein Reden war, bei dem man nicht wusste, was geredet wurde, und setzt voraus, dass einzelnen Erleuchteten vom Geiste geoffenbart werde, was jene Laute bedeuten, damit sie es für die Zuhörer in gewöhnlicher Rede ausdrücken könnten.

Was ist das ‚Reden in Zungen‘ nach den Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung? Eine nervöse Erscheinung, die unter Menschen, die sich in einem Zustande einer gemeinsamen großen Erregung befinden, wie eine Epidemie auftreten kann. Dies geschieht, wie die Geschichte der christlichen und auch mancher nichtchristlichen Sekten bezeugt, bis auf den heutigen Tag. ‚Reden in Zungen‘ ist auch in der Mission, bei bekehrten Heiden aufgetreten.

Dieses Reden ist also nur eine ‚äußere, fast zufällige Begleiterscheinung des wahren Pfingstwunders. Weil sie die Verzücktheit, in die sie verfielen, als das Zeichen der himmlischen Gewalt ansahen, fühlten sich die Jünger plötzlich der Zaghaftigkeit und Furcht enthoben, die sie bisher gelähmt hatten, und fingen an, sich als Geisteskinder Jesu zu offenbaren und die Wahrheit, die er in sie gelegt hatte, in die Welt hineinzurufen. Also hatte es Gott in seiner Weisheit, der alles dienen muss, gefügt.

Wenn wir Pfingsten feiern, beschäftige uns also nicht das ‚äußerliche, vergängliche Wunder, das in jener Zeit dem wahren, innerlichen und ewigen als Hülle diente, sondern dieses selbst. Möge es sich an uns erneuern. In dunkler Zeit lebend, bekennen wir an diesem Tage, dass wir an die Macht des heiligen Geistes glauben. Wir vertrauen auf sie für die Zukunft der Menschheit und des Reiches Gottes und bitten zu Gott, er möge uns Männer senden, die wieder in der Vollmacht und in dem Mute des Geistes zu uns reden und die Wahrheit, die aus dem Geiste kommt, der Welt aufzwingen.

Unsere Welt hasst alles, was Geist ist. Sie will kein innerliches Suchen nach Wahrheit, sie will keine Menschen, die durch ihre innerliche Überzeugung von den in der Welt geltenden Meinungen frei sind. Ihr Trachten, seit Jahrzehnten, geht darauf aus, sich den Einzelnen zu unterwerfen, dass er als Wahrheit ansehe, was die Menge in ihren Vorurteilen und Leidenschaften als solche proklamiert, und ganz verlerne, Wahrheit als etwas Innerliches, Persönliches, Heiliges anzusehen. Soll es ihr gelingen, den Geist zu dämpfen? Wir selbst als Kinder unserer Zeit sind in Ge­fahr, in diesem Tun gedankenlos mitzumachen und Menschensatzung an Stelle des Geistes zu setzen. Darum ist der Apostel Paulus mit seinem ‚Den Geist dämpfet nicht‘ der große Pfingstprediger, dessen wir bedürfen. Möge sein Wort, vielleicht das zeitgemäßeste aus der ganzen Schrift, gewaltig an uns und der Christenheit arbeiten, dass unsere Menschheit aus dem Elende der Geistlosigkeit zur Freiheit, die aus dem Glauben an die Wahrheit und aus der Ehrfurcht vor der Wahrheit kommt, gelange und wieder fähig werde, in der Entwicklung zur Vollendung, die ihr von Gott gesetzt ist, fortzuschreiten.“

Wenn wir also nach dem heiligen Geist fragen, so soll uns nicht das „äußerliche, vergängliche Wunder“ von damals beschäftigen, „das in jener Zeit dem wahren, innerlichen und ewigen als Hülle diente“. Vielmehr geht es darum, die Kraft dieses Gottesgeistes heute zu entdecken und daraus zu leben.

 

Der Geist befreit

An Pfingsten – und nicht nur dann! – sind wir gefragt, wes Geistes Kinder wir sind. Und es wird uns die Freiheit geschenkt, uns zu entscheiden: gegen unsere eigene Ängstlichkeit und für die Freiheit der Kinder Gottes.

Werden wir bestimmt vom Geist der Wahrheit, der uns nötigt, zu prüfen, was wahr und was falsch ist, was gut und was böse ist, oder vom Geist der Welt, der uns dazu verführen will, gedankenlos und gewissenlos mitzumachen, was „man“ eben tut?

Werden wir bestimmt vom Geist der Wahrheit, der unser Mitgefühl weckt gegenüber dem Leiden anderer Menschen, aber auch gegenüber dem von Menschen verursachten Leid der übrigen Kreatur, oder vom Geist der Welt, der uns nur auf den eigenen Vorteil bedacht sein lässt und auf das Bemühen, uns selbst wohlzufühlen und an uns zu reißen, was immer wir nur an Vergnügen, an Bequemlichkeit und an Reichtum erlangen können?

Werden wir bestimmt vom Geist der Wahrheit, der uns der Liebe als der Wirklichkeit versichert, die Bestand haben wird, weil sie in Gott gründet, oder vom Geist der Welt, der uns einreden will, Liebe sei nur ein Wort, ein flüchtiges Abenteuer und ein vergängliches Gefühl?

Solcher Geist der Wahrheit spricht für uns Christen am klarsten aus den Worten und dem Verhalten Jesu. Ob die Wahrheit, die wir an Jesus erkennen können, zu unserer Wahrheit wird, ob sein Geist der Wahrheit in uns eindringt und über uns herrscht, liegt an unserer Entscheidung. Es liegt an uns, ob unser Geist sich seinem Geist öffnet, ob unser Wille sich seinem Willen unterstellt, ob wir „Geisteskinder Jesu“ sind oder doch ernsthaft versuchen, uns als solche zu erweisen.

 

Der Geist erneuert

Werden wir also gefragt: „Wer oder was ist der heilige Geist?“, könnten wir getrost antworten: Der heilige Geist, das ist der Geist Jesu, der aus seinen Worten zu uns spricht, der uns die Wahrheit unseres Lebens vor Gott erkennen lässt, uns für die „Sache Jesu“ begeistert und uns dabei frei macht vom Urteil anderer, von falscher Scheu und Ängstlichkeit. Jedoch ist dieser Geist nicht an den Buchstaben der Schriften des Neuen Testaments gebunden; vielmehr ist er die das Christentum stets erneuernde geistige Kraft, die uns immer tiefer in die Wahrheit führt, die uns ein Christsein mit Herz und Verstand ermöglicht. An diesem heiligen Geist, an dieser Gotteskraft der Erneuerung und Befreiung entscheidet sich die Größe und die Lebendigkeit unseres Glaubens und unseres Christenlebens.

© Dorothea und Prof. Dr. Werner Zager
Abdruck oder Veröffentlichung nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Verfasser


Sie können den Bildungsimpuls zur besseren Lesbarkeit auch hier downloaden und ausdrucken.