Miteinander reden - Miteinander lernen

A wie Armut.

Von A bis Z. Wegweisende Texte aus vier Jahrzehnten 1

Armut und Reichtum

Liebe Leserin, lieber Leser,    

seit meiner Zeit als Vikar in Darmstadt habe ich eine Sammlung von Texten aus Zeitungen und Zeitschriften angelegt, von denen ich der Meinung war, sie hätten uns auch in späteren Jahren noch etwas zu sagen. In den nächsten Wochen, in denen ich coronabedingt keine Präsenzveranstaltungen innerhalb der Evangelischen Erwachsenenbildung durchführen kann, möchte ich Ihnen an jedem Freitag „wegweisende Texte von A bis Z vorstellen:

 Entsprechend dem Alphabet beginnen wir mit dem Buchstaben A. Das Thema für heute lautet: Armut und Reichtum.

Christian Wernickes Artikel „Die Dritte Welt rückt näher– vor rund 25 Jahren geschrieben! – bietet eine tiefschürfende und aufrüttelnde Analyse der Zusammenhänge von Ökonomie und Ökologie, Sozial- und Friedenspolitik. Wenn sich in unseren Tagen im Zeichen der Corona-Pandemie und der sich abzeichnenden Klima-Katastrophe die Probleme immer mehr zuspitzen, wird deutlich, wie recht Wernicke mit seinem eindringlichen Appell hatte. Es ist an uns, endlich umzusteuern als Einzelne und als Gesellschaft – auch wenn es für uns unbequem und mit Einschränkungen verbunden ist.

Es grüßt Sie freundlich
Ihr Werner Zager

 

Die Dritte Welt rückt näher
Die Politik versagt vor der Aufgabe, die soziale Bombe zu entschärfen

Von Christian Wernicke

Die Lunten brennen. Wer will, der sieht es: wie der Bettler am Hauptbahnhof den Mülleimer nach Essbarem durchwühlt; die mexikanischen Bauern, die Fernsehnachrichten zeigen es, mit Kalaschnikows gegen ihr Elend rebellieren; wie französische Eisenbahner gegen Sozialabbau und Weltmarkt anschreien. Sensiblen Gemütern rinnt ein Schauer über den Rücken, wenn am Amazonas der Regenwald brennt oder, an der nächsten Ecke, der Auspuff qualmt. Aber sie sind in der Minderheit. Mit Vollgas ins Treibhaus, bei Tempo 180 bleibt keine Zeit für flüchtige Gedanken über die, die am Straßenrand kauern; vergessen die Warnungen vor dem Kurs in die Katastrophe. Irgendwann trägt es uns halt aus der Kurve – na und?

Es ist ein wahres Husarenstück kollektiver Verdrängung, wie gleichgültig der Republik ihre Einsichten von gestern geworden sind. Vier Millionen Arbeitslose, da muss der Schornstein erst mal wieder rauchen. Die Bundesbürger bangen um den Standort Deutschland, fürchten die Konkurrenz aus allen Himmelsrichtungen. Hinter dem Schlagwort von der Globalisierung verbirgt sich wenig mehr als die Kapitulation der Politik vor dem Primat der Ökonomie. Das Versprechen, die Klima-Apokalypse durch einen ökologischen Umbau abzuwenden, die Erkenntnis, dass weltweit eine soziale Bombe tickt und einen Ausgleich zwischen Arm und Reich verlangt – all das kommt, vielleicht, später dran.

Vielleicht auch zu spät. Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Ethan B. Kapstein diagnostizierte in der Zeitschrift Foreign Affairs „das Scheitern des globalen Kapitalismus“ und warnte: „Die Welt scheint unerbittlich auf einen dieser tragischen Momente zuzutreiben, die Historiker fragen lassen – warum wurde nichts rechtzeitig getan?“ Bei 35 Millionen Arbeitslosen in den Industrieländern versage die Politik heute ,,wie einst die deutsche Elite in Weimar“.

Auch Bonner Zahlen dokumentieren den sozialen Flächenbrand, diesen Zündstoff für Populisten: über 7,25 Millionen Arme, 900 000 Obdachlose, 117 000 fehlende Lehrstellen. In den Vereinigten Staaten, wo die Coca-Cola-Stadt Atlanta zur Feier der Olympiade ihre Straßen von Bettlern säubern ließ, setzen Bürgermeister, zum Beispiel in Baltimore, inzwischen auf Notprogramme, die in den Slums von Bangladesch halfen. Die Dritte Welt droht überall, das Elend kennt keine Grenzen mehr.

Die Armen im Norden überleben am Rande – im Süden raffen Hunger und längst heilbare Krankheiten täglich 25 000 Kinder dahin. Halbe Kontinente, so meldete kürzlich ein UN-Bericht, durchlitten eine Krise, „tiefgreifender als die der dreißiger Jahre“. Das Gerede von der ,,Einen Welt“, in der wir leben, entpuppt sich als Sonntagslyrik. Wochentags spaltet die Globalisierung den Planeten: Ostasien boomt, die westlichen Industrieländer kommen ein wenig voran – aber mehr als einem Viertel der Menschheit in etwa hundert Ländern der Erde geht es schlechter als vor zehn, zwanzig, ja dreißig Jahren. Binnen einer Generation hat sich der Abstand zwischen Nord und Süd verdoppelt, was Wunder, dass inzwischen 358 Dollarmilliardäre so viel besitzen, wie die ärmsten 2,3 Milliarden Weltbürger im Jahr verdienen. Das Globale Dorf schafft sich seine Apartheid. Mehr als Konflikte zwischen Nationen drohen in Zukunft soziale Gemetzel, blutige Aufstände der Heloten sind wahrscheinlicher als irgendein ,,Krieg der Sterne“.

Diese Diagnose ist nicht neu – nur wagt sich niemand an die Therapie. Dabei weisen unzählige Studien und nächtelang ausgehandelte Kompromisse spektakulärer UN-Konferenzen längst die richtige Richtung. Um vor allem im Süden den Teufelskreis der Armut zu durchbrechen, braucht die Welt weiterhin Wachstum. Kein Wachstum nur der Zinsrenditen und Profitraten, sondern mehr menschliche Entwicklung: Wasser und Brot, Grundschulen und Dorfkliniken. Und Jobs. Niemand kann den Enkeln der Elenden in Afrika guten Gewissens einen Lebensstil verheißen, der dem der Wohlhabenden in Europa oder Nordamerika auch nur nahekäme. Aber ohne humanen Fortschritt wird es niemals gelingen, das bedrohliche Bevölkerungswachstum zu bremsen – und jene Hungermärsche zu stoppen, vor denen die Reichen auf ihren Wohlstandsinseln sich fürchten.

Die Gegenleistung des Nordens, sein Beitrag zum globalen Kontrakt? Mehr Handel, mehr Entwicklungshilfe, richtig – vor allem aber das Eingeständnis der Industrieländer, dass sie ihre Fähigkeit zur Koexistenz erst noch „entwickeln“ und beweisen müssen. Auch die Deutschen blasen Unmengen des Klimakillers Kohlendioxid in den Himmel – und rauben damit den Armen im Süden heute jene ökologischen Spielräume, die sie morgen brauchen, um dem Elend zu entkommen. Die Grenzen des Wachstums weist der Horizont, die sich heißlaufende Atmosphäre des Raumschiffs Erde, die sich immer häufiger in Wirbelstürmen, Sintfluten und Verwüstung entladen wird.

Die soziale Bombe auf der Erde zu entschärfen, ohne noch mehr ökologischen Sprengstoff über den Wolken anzuhäufen – das ist die Herausforderung jedweder Friedenspolitik für das 21. Jahrhundert. Doch was geschieht zum Beispiel in Bonn? Die Entwicklungshilfe wird gekürzt, und bereits heute steht fest, dass Deutschland das Versprechen, bis zum Jahr 2005 seinen CO2-Ausstoß gegenüber 1990 um ein Viertel zu verringern, nicht erfüllen wird. Was nötig wäre, ist bekannt und längst analysiert: Eine Energiesteuer muss das Verfeuern von Öl, Gas und Kohle verteuern und gleichzeitig die Arbeitskraft des Menschen billiger machen. Doch davor scheuen die Standortwächter zurück. „Heute nicht, vielleicht morgen“. Tönen nicht nur die Automänner – als ob die ökologische Entziehungskur dann leichter fiele.

Es stimmt ja, im Zeitalter der Globalisierung vermag kein Land mehr ohne Blick auf den Nachbarn zu handeln. Doch ob für mehr Jobs oder für weniger Klimakiller – selbst die ökonomischen Großmächte verzichten darauf, den Märkten einen sozialen und ökologischen Rahmen zu zimmern. Kein Kartellamt überwacht den Wettbewerb und das Zusammenspiel jener 37 000 Konzerne, die schon heute ein Drittel des globalen Sozialproduktes kontrollieren. Stattdessen unterwirft sich die Politik der „Kasino-Wirtschaft“ und erteilt sich Denkverbote: Die Idee des Ökonomie-Nobelpreisträgers James Tobin, durch eine minimale internationale Devisensteuer die Spekulation an den Finanzmärkten zu bändigen, die Weltwährungsordnung wenigstens etwas zu stabilisieren und zugleich 150 Milliarden Dollar jährlich für Klimaschutz, Entwicklungshilfe und Friedensmissionen einzusammeln, darf von der UNO nicht einmal offiziell studiert werden.

Dabei ist klar: Je früher die Regierungen umsteuern, desto eher lässt sich der globale Crash noch abwenden. Doch sie handeln nicht. Stattdessen: schnell eine Mark vom Bürger für den Bettler, vielleicht noch eine Spende für Misereor oder Greenpeace – aber das bleiben Almosen für Mensch und Natur angesichts einer bankrotten, zur Zukunft unfähigen Politik.

Aus: DIE ZEIT, 51. Jahrgang, Nr. 31 (26.7.1996).


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